Agrarverfassung

Autor: Bernd Marquardt | Stand: 31.12.2011

Unter Agrarverfassung versteht man die Gesamtheit der Organisationsprinzipien zur Umweltnutzung und Lebensweise von landwirtschaftlich geprägten Kulturen bzw. der Landwirtschaft in nicht mehr landwirtschaftlich geprägten Kulturen. Unterscheiden lassen sich für Mitteleuropa drei Grundperioden: Die Agrarverfassung der einfachen Bauerngesellschaft vor dem hochmittelalterlichen Landesausbau, die vom 12. bis zum 19. Jahrhundert vorherrschende komplexere herrschaftlich-genossenschaftlich Agrarverfassung sowie die Agrarverfassung der nachfolgenden Industriekultur, in der die Landwirtschaft zunehmend an Bedeutung einbüsste.

Einfache Bauerngesellschaft

Über die erste Phase sind die Informationen zum Gebiet Liechtensteins dürftig. Grundsätzlich ist für den mitteleuropäischen Raum von Spielarten des Wanderfeldbaus mit Brandrodung und nomadischer Weidewirtschaft sowie einer noch starken Bedeutung des Jagens und Sammelns auszugehen. In der römischen Epoche (15 v.Chr. bis Ende des 5. Jahrhunderts n.Chr.) gelangten ansatzweise Einflüsse der höher entwickelten mediterranen Agrarkultur in den liechtensteinischen Raum, die sich in Spuren einzelner römischer Villen (Landgüter) niedergeschlagen haben. Der demografisch-kulturelle Zusammenbruch der Mittelmeerantike im 6.–8. Jahrhundert, u.a. hervorgerufen durch die Justinianische Pest, beseitigte dann auch in Liechtenstein wieder alle Ansätze höherer Agrarkultur.

Herrschaftlich-genossenschaftliche Agrarverfassung

Seit dem 11. Jahrhundert wurde die ursprünglich durch unwegsames Waldgelände geprägte Landschaft Mitteleuropas mittels Rodungen systematisch durch eine agrarische Kulturlandschaft ersetzt. Zu den auslösenden Faktoren dieses meist als Landesausbau bezeichneten Prozesses gehörte eine ausgesprochene klimatische Gunstphase (→ Klima). Diese setzte eine Entwicklung in Gang, in der sich die Erschliessung neuer Nahrungsspielräume und ein starkes Bevölkerungswachstum wechselseitig vorantrieben. Träger der Rodungsbewegung waren Adelsgeschlechter und Klöster, für welche die hoheitliche Inbesitznahme von Waldland zur Rodung und bäuerlichen Besiedlung eine attraktive Methode darstellte, um Herrschafts- und Gerichtsbezirke zu errichten. In diesen Herrschafts- und Gerichtsbezirken waren eine Anzahl bäuerlicher Nachbarschaften einem konkreten Herrschaftszentrum, meist einer Burg, zugeordnet. Zum Ausklang kam der Wachstumsprozess mit der Erreichung der ökologischen Tragfähigkeitsgrenzen um 1300. Seither lag eine Kernfunktion der Agrarverfassung darin, auf lokaler Ebene eine nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen über die Generationen hinweg zu gewährleisten.

An den Landnutzungsrechten einer konkreten Hofstelle hatten drei Instanzen Anteil: Erstens bestand ein herrschaftliches Obereigentum der die Herrschaftsrechte innehabenden Adelsgeschlechter. Dieses ermöglichte ihnen sowohl die Ausübung obrigkeitlicher Funktionen wie auch eine Mitberechtigung an der Nutzung der natürlichen Ressourcen. Eine solche Mitberechtigung konnte auch Klöstern zustehen (→ Grundherrschaft). Eine weitere Instanz war die als Genossenschaft fungierende Gemeinde mit ihrem genossenschaftlichen Gesamteigentum, der Allmende. Schliesslich waren auch die Interessen der Familie und der Verwandtschaft zu berücksichtigen. Alle drei Instanzen besassen eine Vetomacht gegenüber Verkäufen und anderen grundlegenden Veränderungen der Eigentumsverhältnisse durch den Hofinhaber. Bei Entscheidungen in Nutzungsfragen war die Gemeinde die wichtigste Instanz. Die Inhaber der Herrschaftsrechte traten v.a. als Empfänger von Abgaben und Diensten (→ Feudallasten, → Fronen, → Zehnt) im Gegenzug für Schutz- und Schirmpflichten hervor. Typische schriftliche Quellen für diese Agrarverfassung sind im Allgemeinen Urbare, Weistümer und Polizeiordnungen sowie im Speziellen Alprechte, Waldordnungen, Weinbauordnungen, Gemeindeordnungen und Gerichtsurteile, doch war vieles auch nicht aufgezeichnetes Gewohnheitsrecht.

Die Agrarverfassung organisierte fünf überlebensnotwendige Teilökosysteme: 1. den Wald als Brenn- und Bauholzspeicher, 2. die Weide für die Fleisch- und Milchproduktion (→ Rindviehhaltung), 3. das Wiesland als Produktionsfläche für das Überwinterungsviehfutter, 4. die Feldmark als Anbaufläche des Hauptnahrungsmittels Brotgetreide sowie 5. die Gärten als Anbauflächen pflanzlicher Sonderkulturen wie Obst und Gemüse, aber auch Reben (→ Weinbau). Wald und Weide waren kollektiv genutzte Gesamtflächen, die übrigen Teilökosysteme hingegen in Parzellen der Haushalte untergliedert.

Seit der geografische Raum lückenlos von Herrschafts- und Nutzungsrechten erfasst war und damit die Möglichkeit der Gewinnung neuer Flächen entfiel, bestand ein Zwang, die fünf Teilökosysteme im Verhältnis zueinander zu optimieren. Dazu gehörte erstens die Strategie, den Versorgungswald auf die anders nicht nutzbaren Steilhanglagen und auf die Überschwemmungszonen des Rheins zu konzentrieren. Charakteristisch war zweitens der Umstand, dass ein und dieselbe Fläche jeweils mehrfach genutzt wurde; etwa diente das Waldareal als Holzlieferant und zugleich als Weide. Drittens war das Prinzip der Flächenrotation grundlegend, d.h. die unterschiedlichen Nutzungen von Flächen erfolgten in wiederkehrender Abfolge in regelmässigen zeitlichen Abständen. Die Alpwirtschaft kann als jahreszeitliches Rotationssystem über mehrere Höhenstufen bezeichnet werden. Alle zwei bis drei Jahre wechselten sich Feld- und Weidewirtschaft ab. Ein solcher Wechsel vollzog sich auch innerhalb eines Jahres, indem im Rahmen des Atzungsrechts die den einzelnen Haushalten zugeordneten Anbauflächen am Beginn und am Ende der jährlichen Vegetationszeit als Kollektivweide genutzt wurden. Längerfristige Variabilitäten ergaben sich insofern, als die Gemeinde ausgelaugte Anbauflächen in den kollektiven Weidebereich zurücknahm, wofür den betreffenden Gemeindemitgliedern an anderen Orten «Gemeindsteilungen» zu Anbauzwecken zugewiesen wurden. Viertens wurde eine systematische Mengensteuerung des Umweltkonsums praktiziert. Zum Beispiel wurden Obergrenzen für die Holzentnahme und die Beweidung festgelegt, um Konsum und natürliche Reproduktion aufeinander abzustimmen. Stets erfolgte eine Anpassung an die konkreten kleinräumigen Umweltbedingungen, sodass sich in Liechtenstein in den Oberländer Talgemeinden, den Walsergemeinden und im Unterland unterschiedliche Varianten der herrschaftlich-genossenschaftlichen Agrarverfassung feststellen lassen. Änderungen in der Organisation der Flächennutzung brachte die «Kleine Eiszeit» mit sich, die auf ihrem Höhepunkt im 16. Jahrhundert zum Rückbau der Anbauflächen und zur Ersetzung durch weniger kälteanfällige Weiden zwang.

Ein weiteres Element der Agrarverfassung war das Bodenerbrecht. In Liechtenstein wurde statt des verbreiteten Anerbenrechts die Realteilung bevorzugt. Sie hatte den Vorteil, alle männlichen Kinder zu berücksichtigen. Zugleich hatte sie den Nachteil, immer kleinere und damit ärmere Hofstellen zu kreieren, da die Gesamtsumme der Nutzungsrechte nicht vermehrt werden durfte.

Übergang zur Industriegesellschaft

Die dritte Phase der Agrarverfassung wurde durch die aufgeklärte «Revolution von oben» eingeläutet. Die landesfürstliche Dienstinstruktion von 1808 war ein Markstein, der einen sich bis in die 1860er Jahre hinziehenden Reformprozess in Gang setzte. Der Staat lehnte sich dabei an die physiokratisch-liberale Wirtschaftslehre an, die ein attraktives Programm entworfen hatte, wie sich durch einen völligen Bruch mit der hergebrachten Agrarverfassung Produktions- und Wohlstandszuwächse erzielen liessen. Die genossenschaftlichen Allmenden einerseits und das herrschaftliche Obereigentum mit den daraus abgeleiteten Feudallasten andererseits sollten wegen ihrer für eine effektive Landnutzung als hinderlich angesehenen Wirkung aufgelöst und durch privates Bodeneigentum für eigenverantwortlich wirtschaftende Bauern ersetzt werden (→Bauernbefreiung). Neben praktischen Erwägungen stand hinter diesen Reformbestrebungen ein neuartiges, an der mechanischen Physik orientiertes Naturbild, das analog zur Annahme, die Natur habe eine Atomstruktur, ein individualistisches Gesellschaftsbild forderte. Ein zweiter reformauslösender Faktor lag ab den 1780er Jahren in der Bevölkerungsexplosion, welche die Kapazitätsgrenzen der alten Agrarverfassung zu sprengen drohte. Drittens spielte die Erweiterung der Anbaupflanzentypen die Rolle eines Reformmotors, besonders durch die unempfindliche und biomassereiche südamerikanische Kartoffel (ab 1817 verstärkt). Mit ihr liess sich pro Flächeneinheit deutlich mehr Nahrung produzieren, doch war hierfür die Auflösung der hergebrachten Mehrfachflächennutzung erforderlich. Parallel forcierte der Staat die Güterzusammenlegung und den Übergang zum Anerbenrecht. Die Umsetzung von alledem erwies sich als Jahrhundertprojekt.

Eine ältere Auffassung sah in der liberalen Umformung der Agrarverfassung die Ursache der bemerkenswerten Produktionssteigerungen des 19. und 20. Jahrhunderts, welche in Liechtenstein eine Versechsfachung der Bevölkerung trugen. Jedoch hat die jüngere Umweltgeschichtsforschung betont, dass der primäre Erfolgsfaktor darin bestand, dass die Erträge der Landwirtschaft durch importierte bzw. industriell gefertigte Düngemittel gesteigert werden konnten. Zu beachten bleibt, dass die liberalen Agrarreformen in Liechtenstein nur teilweise verwirklicht wurden; gewichtige Reste der alten Agrarverfassung haben sich in Form des Gemeindebodens, des Gemeindenutzens und der Bürgergenossenschaft bis heute behauptet.

Fundamental wurde der Stellenwert der Agrarverfassung durch die Industrielle Revolution berührt, die einen weitgehenden Untergang des Bauerntums herbeiführte: Waren um 1800 mehr als 90 % der liechtensteinischen Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, so sind es heute weniger als 2 %. Seit 1950 stand diese Dynamik in einer Wechselwirkung zur Mechanisierung der nunmehr stark rationalisierten Landwirtschaft. Die Verordnung über die Güterzusammenlegung von 1954 und das Meliorationsgesetz von 1981 trugen derselben Rechnung, indem die Agrarflächen traktorgerecht neu formiert wurden. Ferner führte das Aussiedlungsgesetz von 1962 zum Transfer zahlreicher Landwirtschaftsbetriebe aus den Dorfkernen in die Nutzflächen hinein. Auf die Umweltprobleme, zu denen der übermässige Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden gehörte, reagierte Liechtenstein seit der ersten Hälfte der 1990er Jahre mit einer zunehmend auch ökologische Belange berücksichtigenden Landwirtschaftspolitik. Im Übrigen entwickelt sich die liechtensteinische Agrarverfassung seit 1924 in der Konsequenz des Anschlusses an das schweizerische Wirtschaftsgebiet in enger Anlehnung an das protektionistische, subventionsorientierte Modell der Eidgenossenschaft. Inwieweit der schweizerisch-liechtensteinische Agrarprotektionismus in Zukunft gegen den Liberalisierungsdruck der WTO und EU verteidigt werden kann, ist ungewiss.

Literatur

  • Bernd Marquardt: Umwelt und Recht in Mitteleuropa. Von den grossen Rodungen des Hochmittelalters bis in 21. Jahrhundert, Zürich 2003.
  • Fabian Frommelt: Das Dorf Triesen im Mittelalter, in: Bausteine zur liechtensteinischen Geschichte. Studien und studentische Forschungsbeiträge, hg. von Arthur Brunhart, Bd. 1: Vaduz und Schellenberg im Mittelalter, Zürich 1999, S. 113–161, bes. S. 115–125.
  • Bruno Wickli: Die Walser am Triesenberg und ihre Wirtschaftsform, in: Bausteine zur liechtensteinischen Geschichte. Studien und studentische Forschungsbeiträge, Bd. 1: Vaduz und Schellenberg im Mittelalter, hg. von Arthur Brunhart, Zürich 1999, S. 371–410.
  • Bernd Marquardt: Das Römisch-Deutsche Reich als Segmentäres Verfassungssystem (1348–1806/48). Versuch zu einer neuen Verfassungstheorie auf der Grundlage der Lokalen Herrschaften, Zürich 1999.
  • Jon Mathieu: Eine Agrargeschichte der inneren Alpen. Graubünden, Tessin, Wallis 1500–1800, Zürich 1992.
  • Herbert Wille et al.: Bericht der Arbeitsgruppe zum Postulat vom 12. November 86 betreffend die Erstellung eines landwirtschaftlichen Leitbildes, Manuskript 1988 [LBFL].
  • Alois Ospelt: Wirtschaftsgeschichte des Fürstentums Liechtenstein im 19. Jahrhundert. Von den napoleonischen Kriegen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 72 (1972), S. 5–423, hier S. 83–226.
  • Karl Siegfried Bader: Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes, 3 Bände, Köln/Wien 1957–73.
  • Josef Büchel: Der Gemeindenutzen im Fürstentum Liechtenstein (unter besonderer Berücksichtigung des Gemeindebodens), Manuskript, Triesen 1953 [LBFL].

Zitierweise

<<Autor>>, «Agrarverfassung», Stand: 31.12.2011, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), URL: <<URL>>, abgerufen am 9.2.2025.

Medien

Plan zur Aufteilung des Gemeindebesitzes in Schaan, 1844 (LI LA). Mit der Aufteilung des gemeinschaftlich genutzten Gemeindegebiets in Privatgrundstücke für die Gemeindebürger in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhr die Agrarverfassung in Liechtenstein einen radikalen Wandel.