
Behinderte
Autor: Markus Burgmeier | Stand: 31.12.2011
Als Behinderte werden Menschen mit körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen bezeichnet, unabhängig davon, ob die Behinderung geburts-, alters-, krankheits- oder unfallbedingt ist. Der Begriff hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchgesetzt, während früher Behinderte entweder nach der Art des Gebrechens mit z.T. abwertenden Bezeichnungen (Krüppel, Irrer) oder nach allgemeineren Kriterien (arm, bedürftig, krank, bresthaft) benannt wurden.
Die Kenntnisse über das Leben der Behinderten in Liechtenstein sind bis ins 20. Jahrhundert spärlich. Je nach Art der Behinderung dürften sie durch Tätigkeiten in der Landwirtschaft oder bestimmten Handwerken selbst zu ihrem Unterhalt beigetragen haben. Ansonsten lag die Fürsorge (→Sozialhilfe) für Behinderte wie für Kranke und Gebrechliche bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts primär in der Verantwortung der Familien. Sofern die familiäre Unterstützung unterblieb, war eine Behinderung häufig mit einem auf das Bettelwesen gestützten Leben in Armut verbunden, wobei einheimische Behinderte wie andere Arme Unterstützungen der Kirche, der Gemeinden (→«Spend») und der Landschaften erhielten, fremde Bedürftige aber ausgewiesen wurden. Erst ab Mitte 19. Jahrhundert kümmerte sich der Staat vermehrt um Arme und Behinderte, ab 1845 durch eine landschaftliche Armenkommission, der ein Landesarmenfonds zur Verfügung stand. Das 1869 geschaffene erste liechtensteinische Armengesetz definierte Armut über die Nichtfähigkeit des Selbstunterhalts, die durch das Alter oder durch körperliche und/oder geistige Gebrechen bedingt sein musste, und übertrug die Unterstützungspflicht weiterhin den Verwandten und den Heimatgemeinden. In den fünf 1870–1904 in Liechtenstein entstandenen Bürgerheimen fanden auch physisch und psychisch Behinderte eine Wohn- und Lebensmöglichkeit. Sich selbst und ihre nähere Umgebung gefährdende Behinderte wurden – z.T. auf Gutachten des Landesphysikus, z.T. durch Zwangseinweisung – in ausländische Anstalten untergebracht, z.B. im vorarlbergischen Landes-Nervenkrankenhaus Valduna (ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts) oder in die psychiatrischen Klinik St. Pirminsberg in Pfäfers. Die 1917 geplante Errichtung eines liechtensteinischen «Kranken- und Irrenhauses» kam nicht zustande. Für das Jahr 1941 gibt es Hinweise auf die Deportation von einzelnen in der Valduna einsitzenden geistig Behinderten aus Liechtenstein in österreichische Vernichtungslager.
Der Landtag stellte 1908 mit der Errichtung eines landschaftlichen Irrenfürsorgefonds (aufgelöst 1997) und 1923 eines Kranken-, Alters- und Invalidenfonds zusätzliche Mittel für die Behinderten-Versorgung bereit, die von der Regierung von Fall zu Fall gesprochen wurden. 1960 wurde die Invalidenversicherung (IV) eingeführt, deren erstes Ziel es ist, behinderten Personen, die ganz oder teilweise erwerbsunfähig sind, die Existenzgrundlage zu sichern. 1966 trat das Sozialhilfegesetz in Kraft, 1971 das Gesetz zur Einführung der Blindenbeihilfe.
Seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kümmerten sich vermehrt private Einrichtungen um die Behinderten und deren Integration in die Gesellschaft: Die 1924 gegründete private Caritas setzte sich für die schulisch-berufliche Förderung von Behinderten ein, zumal behinderte Kinder von 1929 bis 1971 gemäss Schulgesetz von der Schulpflicht entbunden waren. Seit 1973 obliegt die heilpädagogische Sonderschulung dem 1967 gegründeten Verein für heilpädagogische Hilfe in Liechtenstein, der 1969 in Schaan eine Heilpädagogische Tagesstätte mit Sonderschule und -kindergarten eröffnete und beschützende Werkstätten sowie zwei Heime für betreutes und begleitetes Wohnen unterhält (→Heilpädagogisches Zentrum HPZ). Für Menschen mit psychischer Behinderung oder Erkrankung wurde in den letzten Jahrzehnten ein breites Angebot an ambulanten und stationären Dienstleistungen staatlicher und privater Anbieter aufgebaut. Zu nennen sind besonders die Betreuungszentren der Stiftung Liechtensteinische Alters- und Krankenhilfe (LAK), die mobilen und stationären Dienste des Vereins für Betreutes Wohnen sowie die sozialpsychiatrische Hilfen des Amts für Soziale Dienste. Dank dem Ausbau des Angebots betreuter Wohnformen seit 1987 erfolgt die Betreuung der Behinderten mittlerweile zu einem Grossteil im Inland. Für die Durchführung besonders spezialisierter Behandlungen bestehen Verträge mit ausländischen Kliniken, Anstalten und Heimen (→Gesundheitswesen).
1953 entstand im Zug des Kampfes um die Einführung der IV mit dem Liechtensteiner Behinderten-Verband (LBV) eine umfassende Interessenvertretung. Die 1976–2007 international tätige Stiftung zur Förderung körperbehinderter Hochbegabter mit Sitz in Vaduz vertrat u.a. deren Interessen in der Öffentlichkeit, informierte über Integrationsmöglichkeiten und führte wissenschaftliche Symposien durch. Der 1993 gegründete Gehörlosen Kulturverein Liechtenstein bietet u.a. in seinem 2001 in Triesen eröffneten Clubraum Erwachsenenbildung, Treffen für Gehörlose und Gebärdenkurse für Hörende an (2007: 112 Mitglieder). Seit 2003 stellt der Verein Albatros betreute Freizeitangebote für geistig und psychische Behinderte bereit (v.a. Ferien). Die Familienhilfe führt einen Entlastungsdienst für Familien mit Behinderten. Zudem gibt es eine Selbsthilfegruppe für Familien mit behinderten Kindern.
Im Vergleich zur Ausgrenzung in früheren Jahrhunderten hat sich in den letzten Jahrzehnten neben der fachlichen Hilfe und der wirtschaftlichen Absicherung auch die gesellschaftliche Integration verbessert, ohne dass alle Diskriminierungen beseitigt wären. Das 2007 in Kraft getretene Behindertengleichstellungsgesetz bezweckt, die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung zu beseitigen und die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu gewährleisten, u.a. durch ein allgemeines Diskriminierungs- und Belästigungsverbot sowie durch Verbesserungen in den Bereichen Bauten und Anlagen, öffentlicher Verkehr und Verkehrswege. Allerdings beruht die berufliche Integration von Behinderten auf dem freien Arbeitsmarkt auf Freiwilligkeit; eine gesetzliche Verpflichtung dazu wie z.B. in Österreich gibt es nicht.
Archive
- Liechtensteinisches Landesarchiv, Vaduz (LI LA).
Quellen
- Rechenschaftsbericht der Regierung an den Hohen Landtag, Vaduz 1922– (diverse Titelvarianten); online ab Jahrgang 2005.
- Jahresberichte LBV 1977–
- Jahresberichte Gehörlosen Kulturverein Liechtenstein 1993–.
Literatur
- Wilfried Marxer, Silvia Simon: Zur gesellschaftlichen Lage von Menschen mit Behinderungen. Studie zuhanden der Stabstelle für Chancengleichheit aus Anlass des «Europäischen Jahres der Chancengleichheit für alle», Bendern 2007.
- Carlo Wolfisberg: «Behinderte», in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 01.12.2006.
- Förderung körper- und sinnesbehinderter Hochbegabter, Hg. M. Jäger, H. Jussen, 2002.
- Sabine Falk-Veits, Alfred Weiss: «Armselig sieht es aus, die not ist nicht zu beschreiben» Armut als soziales und wirtschaftliches Problem des 18. und 19. Jahrhunderts, dargestellt am Fallbeispiel Liechtenstein, in: Bausteine zur Liechtensteinischen Geschichte Bd. 2 (1999), S. 209–241.
- Albert Caminada: LBV. Dokumentation zum 40jährigen Jubiläum des Liechtensteiner Behinderten-Verbands, Vaduz 1993.
- Solidarität tut Not 1966-1991. 25 Jahre Sozialhilfegesetzgebung und Bestehen des Fürsorgeamtes in Liechtenstein, hg. von Liechtensteinisches Fürsorgeamt, Schaan 1991.
- Gernot Egger: Ausgrenzen, Erfassen, Vernichten. Arme und Irre in Vorarlberg, Bregenz 1990, S. 222, 240f.
- In der Maur/Vogt: Rechenschaftsbericht 1884–90, 1990, S. 68f.
- Graham Martin: Das Bildungswesen des Fürstentums Liechtenstein. Nationale und internationale Elemente im Bildungssystem eines europäischen Kleinstaates, Zürich/Sabe 1984, S. 259–271.
Zitierweise
<<Autor>>, «Behinderte», Stand: 31.12.2011, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), URL: <<URL>>, abgerufen am 8.2.2025.