
Berufsbildung
Autorin: Annette Bleyle | Stand: 31.12.2011
Die Berufsbildung vermittelt die zur Ausübung eines bestimmten Berufs nötigen fachlichen Fertigkeiten und Kenntnisse sowie erste Berufserfahrung. Der in Liechtenstein bedeutendste Berufsbildungs-Weg ist die Berufslehre, die eine praktische Ausbildung in einem Lehrbetrieb mit der theoretischen Schulung an einer Berufsschule verbindet (duales System). Zur Berufsbildung werden auch die berufliche Weiterbildung und Umschulung gezählt.
Der agrarische Ausrichtung der Wirtschaft entsprechend, wurden in Liechtenstein Handwerk und Gewerbe bis weit ins 19. Jahrhundert meist nur als Nebenerwerb betrieben. Über die wohl meist durch eine Anlehre erfolgende Ausbildung dieser Handwerker ist wenig bekannt. Laut Landvogt Josef Schuppler fehlten in Liechtenstein noch 1815 qualifizierte Lehrmeister, weshalb sich Lehrwillige bei erfahrenen Meistern im Ausland, v.a. in Feldkirch, verdingten und ihre Kenntnisse in Wanderjahren vervollkommneten. Eine Ausnahme war wohl, dass 1793, vermittelt von Fürst Alois I. von Liechtenstein, drei Schaaner in Wien eine Berufsbildung antreten konnten.
Erst nach der Mitte des 19. Jahrhunderts setzten noch rudimentäre, aber systematische staatliche Bemühungen um eine bessere Vorbereitung auf die Berufslehre und um die berufliche Weiterbildung ein: Ab 1860 führte Reallehrer Gregor Fischer Abendklassen für junge Handwerker und Landarbeiter durch. An der für Schulabgänger obligatorischen Sonntagsschule (→Fortbildungsschule) besuchten Mädchen die Industrieschule (→Handarbeits- und Hauswirtschaftsunterricht) und Knaben ab 1861 die sogenannte Handwerkerschule. Besonders auf das Baugewerbe ausgerichtete Zeichenkurse ab 1865 standen auch älteren Jugendlichen und Männern offen.
Die Gewerbeordnung von 1910 zählte einen Lehrabschluss sowie eine zweijährige Gehilfenzeit zu den Voraussetzungen für die selbständige Ausübung eines Gewerbes. Von der Mitte der 1920er bis in die 1930er Jahre wurden in verschiedenen Gemeinden erneut öffentliche Weiterbildungskurse (technisches Zeichen, kfm. Kurse) abgehalten, ab 1928 unter der Leitung der Wirtschaftskammer. Letztere bestellte ab 1925 eine Lehrlingskommission, die u.a. Lehrstellen vermittelte, Lehrverträge beglaubigte und Lehrlingsprüfungen abnahm. In den 1930er Jahren übernahm die Regierung die Leitung des Lehrlingswesens, welches sie 1973 dem Amt für Volkswirtschaft und 1976 dem Amt für Berufsbildung übertrug. Die Lehrlingskommission wurde 1976 durch den Berufsbildungsrat ersetzt. 2006 fusionierte die 1948 geschaffene Stelle für Berufsberatung mit dem Amt für Berufsbildung zum Amt für Berufsbildung und Berufsberatung.
Die Verfassung von 1921 zählt die Förderung des hauswirtschaftlichen, landwirtschaftlichen und gewerblichen Unterrichts- und Bildungswesens zu den Staatsaufgaben. Das Schulgesetz von 1929 verpflichtete die Lehrmeister dazu, ihre Lehrlinge zum Besuch von Fachkursen anzuhalten. Das 1936 in Kraft getretene erste Lehrlingsgesetz schrieb erstmals die theoretische Fachausbildung verpflichtend vor. Das Berufsbildungs-Gesetz von 1976 gliederte die berufliche Grundausbildung in die Berufslehre und die geringere Anforderungen stellende Anlehre sowie in Vollzeit- und Teilzeitberufsschulen; ausserdem regelte es die berufliche Weiterbildung und Umschulung. Im Berufsbildungs-Gesetz von 2008 wurde der Begriff «Berufslehre» in «Berufliche Grundbildung» abgeändert. Neu eingeführt wurde eine zweijährige Grundbildung mit Berufsattest. Zudem wurden die Anforderungen an Berufsbildner in den Betrieben rechtlich verankert. Neben der beruflichen Fachkundigkeit der Berufsbildner ist das Absolvieren von 20 Kursstunden zur Aneignung von pädagogischen und methodisch-didaktischen Fähigkeiten verpflichtend. Das Berufsbildungs-Gesetz fördert u.a. die Transparenz und die Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Bildungsgängen im Bildungssystem, den Ausgleich der Bildungschancen, die Gleichstellung von Mann und Frau, die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen sowie die internationale Zusammenarbeit und Mobilität.
Liechtenstein ist im Bereich der theoretischen Berufsbildung weitgehend auf ausländische Einrichtungen angewiesen; Pläne zur Errichtung einer Berufsschule scheiterten 1935 und 1981. Allerdings bereiteten die Haushaltungsschule im Institut Gutenberg (1922–35), die Handelsabteilung des Collegium Marianum in Vaduz (1937–48) und die Handels- und Hauswirtschaftsklassen des Instituts Sankt Elisabeth auf eine Berufstätigkeit vor, ebenso das 1961 gegründete Abendtechnikum Vaduz. Im 19. Jahrhundert waren u.a. die Textil- und Stickereifachschulen in Dornbirn und in St. Gallen für Liechtenstein von Bedeutung. 1935 traf die liechtensteinische Regierung eine Vereinbarung mit der Berufsschule Buchs (SG), um liechtensteinische Lehrlingen den Zugang zu ermöglichen. Seit 1936 besuchen rund 80 % der Lehrlinge aus Liechtenstein Berufsschulen im Kanton St. Gallen. Eine vertragliche Vereinbarung mit St. Gallen wurde 1971 geschlossen, der Zugang zu den betreffenden Schulen war aber schon vorher durch finanzielle Beiträge Liechtensteins gesichert worden. Die Lehrabschlussprüfungen finden jeweils in der Schweiz statt, die Zeugnisse stellen die liechtensteinischen Behörden aus. Mit Graubünden bestehen ebenfalls vertragliche Abmachungen (z.B. seit 1988/90 betreffend Krankenpflegeschulen). Ein Abkommen mit der Schweiz von 1954 sichert die Zulassung von Liechtensteinern zu den höheren schweizerischen Fachprüfungen. Seit 1971 ist Liechtenstein Vertragspartner der Interkantonalen Försterschule in Maienfeld (GR), und seit dem EWR-Beitritt 1995 beteiligt sich Liechtenstein am EU-Berufsbildungsprogramm «Leonardo».
Der liechtensteinische Lehrstellenmarkt war bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eng begrenzt, weshalb Lehrlinge ins Ausland, v.a. nach Feldkirch, und nach dem Abschluss des Zollanschlussvertrags mit der Schweiz 1923 besonders dorthin auswichen. Infolge des Wachstums und der Diversifizierung der Wirtschaft nach 1945 nahm die Zahl der Lehrstellen und -berufe in Liechtenstein zu. Staat und Unternehmen erkannten und förderten eine gute Berufsbildung als entscheidenden Faktor für die Entwicklung der Wirtschaft. 1972 wurden Lehrlinge bezüglich Stipendien den Mittelschülern gleichgestellt. 2006 absolvierten 67 % der liechtensteinische Schulabgänger eine zwei-, drei- oder vierjährige Lehre in rund 80 verschiedenen Berufen. Die überwiegende Mehrheit der liechtensteinischen Lehrlinge durchläuft die praktische Ausbildung im Inland. 2005 hatten von den damals 1138 Lehrlingen in liechtensteinischen Betrieben 795 ihren Wohnsitz in Liechtenstein, 338 in der Schweiz und fünf in Österreich. Zur Aufwertung der Berufsbildung wurde ab 1992 die Berufsmittelschule Liechtenstein aufgebaut, welche die Erlangung der Berufsmatura und den anschliessenden Übertritt an höhere Voll- oder Teilzeitberufsschulen (z.B. Fachhochschulen) erlaubt. Seit 1968 nehmen liechtensteinische Lehrlinge an den internationalen Berufsweltmeisterschaften (WorldSkills) teil.
Die Zahl weiblicher Lehrlinge war bis in die 1950er Jahre gering. Die Lehrberufe für Mädchen beschränkten sich weitgehend auf traditionelle Frauenberufe wie Hebamme, Damenschneiderin oder Verkäuferin oder auf den Bereich Haushalt. Ab der Hochkonjunktur der Nachkriegszeit absolvierten vermehrt junge Frauen eine Lehre, zudem weitete sich ihr Berufsspektrum aus (→Frauenerwerbsarbeit, →Mädchenbildung). Die ersten weiblichen Lehrlinge im kfm. Bereich sind 1955 belegt, in der Landesverwaltung 1960. Die Ausbildung weltlicher Frauen zu Lehrerinnen und Krankenschwestern begann Mitte der 1960er Jahre. 2006 besetzten Frauen 36 % der Lehrstellen in Liechtenstein.
Quellen
- Rechenschaftsbericht der Regierung an den Hohen Landtag, Vaduz 1922– (diverse Titelvarianten); online ab Jahrgang 2005.
Literatur
- Julia Frick: Frauenerwerbsarbeit im Liechtenstein der Nachkriegszeit bis zum Ende der 1970er Jahre. Von Mädchen, Töchtern, Fabriklerinnen und Bürofräuleins und den ersten weiblichen Arbeitskräften von Vater Staat, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 106 (2007), S. 1–71, hier S. 43–48.
- Das liechtensteinische Bildungswesen, hg. vom Presse- und Informationsamt, Vaduz 22002, S. 37–39.
- Peter Geiger: Krisenzeit. Liechtenstein in den Dreissigerjahren 1928–1939, Vaduz/Zürich 22000, S. 138f.
- Berufliche Bildung im Fürstentum Liechtenstein, hg. vom Amt für Berufsbildung, Vaduz 1997.
- Emanuel Vogt: Mier z Balzers. Wie es früher bei uns war, Bd. 2: Lebensweg, Vaduz 1996, S. 317–319.
- Graham Martin: Das Bildungswesen des Fürstentums Liechtenstein. Nationale und internationale Elemente im Bildungssystem eines europäischen Kleinstaates, Zürich 1984, S. 193–231.
Zitierweise
<<Autor>>, «Berufsbildung», Stand: 31.12.2011, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), URL: <<URL>>, abgerufen am 9.2.2025.