Bevölkerung

Autor: Paul Vogt | Stand: 31.12.2011

Der Begriff Bevölkerung umfasst alle in einem bestimmten Gebiet lebenden Personen. Ihre Zusammensetzung ändert sich durch demografische Prozesse wie Geburt, Tod und Migration (→Auswanderung, →Ausländer) laufend. Zahlen zur Bevölkerungs-Entwicklung werden in Liechtenstein seit dem 19. Jahrhundert durch Volkszählungen erhoben. Aufgrund der Aufzeichnungen in den Pfarrbüchern (Taufen, Heiraten, Sterbefälle) kann die Bevölkerungs-Entwicklung seit dem 17. Jahrhundert geschätzt werden.

Urgeschichte bis Mittelalter

Die Auswertung archäologischer Funde ergab, dass bis ins 7./6. Jahrhundert v.Chr. im heutigen Liechtenstein die rätische Kultur (→Räter) vorherrschte, ab dem 3./2. Jahrhundert v.Chr. zeigen die Funde meist keltische Merkmale (→Kelten). Nach der Eroberung durch die Römer (→Römerzeit) wurden die keltischen und rätischen Stämme ab dem 1. Jahrhundert n.Chr. romanisiert. Neben die rätoromanische Bevölkerung traten ab dem 6. Jahrhundert die von Norden einwandernden Alamannen. Beide Bevölkerungsgruppen bestanden mit ihren Kulturen und Sprachen lange nebeneinander, die Vermischung erfolgte langsam. Erst um 1300 wurde die rätoromanische Kultur – begünstigt durch die um diese Zeit erfolgte Einwanderung der Walser – endgültig verdrängt.

Im Hochmittelalter erlebte der mitteleuropäische Raum ein starkes Bevölkerungs-Wachstum, auf das ab dem 14. Jahrhundert eine agrarische und demografische Krise folgte, die allerdings regional sehr unterschiedlich ausgeprägt war. Zum liechtensteinischen Gebiet liegen keine spezifischen Informationen vor. Hinweise auf den hochmittelalterlichen Landesausbau und die Pest im Spätmittelalter sind aber auch hier vorhanden, sodass eine ähnliche Entwicklung wie im übrigen Mitteleuropa anzunehmen ist. Im 15. und besonders im 16. Jahrhundert ist von einer wachsenden Bevölkerung auszugehen.

Unterschiedliche Wachstumsphasen in der Neuzeit

Auch für das 17. und 18. Jahrhundert fehlen noch verlässliche Angaben zur Bevölkerungsgrösse. Eine erste Schätzung existiert für die Zeit um 1584. Danach betrug die Einwohnerzahl der Grafschaft Vaduz 2500 und jene der Herrschaft Schellenberg 1300, zusammen 3800. Aufgrund der allgemeinen Entwicklung in der Region und der Auszählung von Geburten und Todesfällen in einzelnen Pfarrbüchern ist davon auszugehen, dass die Bevölkerung im Dreissigjährigen Krieg stagnierte oder zurückging und dann ab ca. 1648 bis ins erste Drittel des 18. Jahrhunderts stark anstieg. Ab ca. 1730 bis etwa 1760 stagnierte die Bevölkerung infolge rasch aufeinanderfolgender Seuchen und Ernährungskrisen. Nach 1760 setzte wiederum ein starkes Wachstum ein, das von der grossen Hungersnot der Jahre 1771/72 nur kurz unterbrochen wurde. Während der Koalitionskriege kam es erneut zu einer Stagnation, zeitweise gar zu einem Rückgang. 1796 schleppten österreichischen Truppen Seuchen ein, die zu einem Bevölkerungs-Rückgang führten. Kurz nach der Jahrhundertwende setzte das Wachstum wieder ein und hielt bis in die 1840er Jahre an. Die Hungerkrisen von 1806 und 1817 zeigten nur kurzfristige Auswirkungen. Ab den 1840er Jahren bis Ende 19. Jahrhundert stagnierte die Bevölkerung wiederum. Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts setzte ein zunächst langsames Wachstum ein, das während des Ersten Weltkriegs wegen der Rückwanderung ausländischen Arbeitskräfte in der Textilindustrie vorerst unterbrochen wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs die Bevölkerung v.a. wegen der Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte stark. Die Gesamtschau zeigt, dass das Wachstumstempo im Wesentlichen durch die Existenzmöglichkeiten und die wirtschaftliche Entwicklung bestimmt wurde. Von 1584 bis 1815 stieg die Bevölkerung von 3800 auf 6117 (jährliche Wachstumsrate 0,21 %) und von 1815 bis 1901 von 6117 auf 7531 (0,24 %), von 1901 bis 2000 aber von 7531 auf 32 863 (1,50 %). Im Zeitraum 1584 bis 1901 verdoppelte sich die Bevölkerung, von 1901 bis 2000 stieg sie um das 4,3-Fache.

Geburten- und Sterberate

Erklärungen für die unterschiedlichen Entwicklungsphasen liefern v.a drei Faktoren: die Geburten- und Sterberate, die Migrationsströme und die Veränderung der Altersstruktur. Die wenigen aufbereiteten Daten für die natürliche Bevölkerungs-Entwicklung im vorindustriellen Zeitalter zeigen, dass die Sterberate in der Stagnationsphase des 18. Jahrhunderts mehrfach über der Geburtenrate lag. Ab ca. 1760 stieg die Geburtenrate stark an und lag meist über der Sterberate. Seit 1800 ging die Sterberate im langfristigen Trend ständig zurück (um 1800 bei etwa 40‰, 2007 noch bei etwa 6‰). Der Rückgang der Sterberate ist v.a. auf bessere Hygiene, medizinische Fortschritte (Bekämpfung von Infektionskrankheiten, →Krankheit) und die verbesserte Ernährung (Kartoffel- und Mais-Anbau, bessere Bodennutzung) zurückzuführen. Entscheidend war der Rückgang der Säuglings- und Kindersterblichkeit, aber auch die Auswirkungen von Seuchen und Hungersnöten wurden seit dem Beginn des 19.Jahrhunderts abgemildert.

Die Erklärungen für den Rückgang der Geburtenrate (um 1800 etwa bei 45‰, 2007 noch etwa bei 10‰) sind weniger eindeutig. Ein Zusammenhang zwischen Mortalität und Natalität ist wahrscheinlich: Wenn weniger Kinder starben, brauchte es zur Sicherung des Nachwuchses weniger Geburten. Die Grafik zeigt, dass die Geburtenrate der Sterberate mit einem zeitlichen Abstand folgte. Im frühen 19. Jahrhundert löste das starke Bevölkerungs-Wachstum angesichts der beschränkten Nahrungsressourcen Ängste vor einer allgemeinen Verelendung aus. Die Obrigkeit reagierte mit Verbotsmassnahmen (→Hausbauverbot) und Heiratsbeschränkungen (politischer Ehekonsens). Wie erfolgreich solche Massnahmen waren, ist offen. Der eigentliche demografische Übergang begann Ende 19. Jahrhundert: Die Sterbe- wie die Geburtenrate gingen – wenn auch mit zwischenzeitlichen Ausschlägen – zurück. Während in der Agrargesellschaft Kinder auch als Arbeitskräfte und für die Alterssicherung dienen mussten, wurden sie in der industriellen Zeit zu einer finanziellen Belastung und schränkten die Konsummöglichkeiten ein. Zudem wurden die Arbeitsbedingungen in der Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft kaum auf die Bedürfnisse von Familien abgestimmt. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein ausgeprägter Trend zur Klein- und Kleinstfamilie festzustellen. Nachdem in den 1940er und 50er Jahren die Geburtenrate noch einmal angestiegen war («Babyboom»), ging sie seit den 1960er Jahren markant zurück («Pillenknick» infolge der Antibabypille). Empfängnisverhütung und Familienplanung wurden allgemein praktiziert, veränderte Werthaltungen und die Emanzipation der Frauen spielten ebenfalls eine wichtige Rolle («zweiter demografischer Übergang»). Um möglichst lange im Erwerbsleben bleiben zu können, schoben viele die Geburt des ersten Kindes hinaus. Neue Lebensformen setzten sich durch (z.B. Zurückhaltung bei langfristigen Bindungen bzw. Zusammenleben ohne Trauschein, Anstieg der Einpersonenhaushalte, Ermöglichung von Ehescheidungen, ausgeprägtes Konsumdenken).

Statistisch wirkten sich auch die Migrationsströme auf die Geburten- und Sterberate aus: Die Auswanderung von jungen Erwachsenen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewirkte einen Anstieg der Sterbe- und einen Rückgang der Geburtenrate. Umgekehrt führte die Einwanderung von zumeist jungen Leuten im Erwerbsalter in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem Rückgang der Sterbe- und einem Anstieg der Geburtenrate.

Ein- und Auswanderung

Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs war Liechtenstein wegen der schlechten Versorgungslage ein Auswanderungsland; nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es infolge des anhaltenden Wirtschaftsbooms zum Einwanderungsland. Frühe Formen der Auswanderung waren der Solddienst (→fremde Dienste), Heirat ins Ausland und Eintritt in Klöster. Die saisonale Auswanderung (→Saisonniers) ist seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts belegt. Sie war im 19. Jahrhundert von grosser Bedeutung und hörte erst mit dem Beginn des wirtschaftlichen Aufschwungs im Zweiten Weltkrieg auf.

Trotz Auswanderungsverbot von 1809 muss es schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts heimliche Auswanderungen gegeben haben. Das Verbot wurde zunächst gelockert und 1848 aufgehoben. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung wanderte ab den 1840er Jahren in mehreren Wellen aus wirtschaftlicher Not aus. Während die Auswanderung nach Nord- und Südamerika gut erforscht ist, gibt es zur Auswanderung in die Nachbarländer Schweiz und Österreich kaum Zahlenmaterial. Der Wanderungssaldo zeigt, dass die Auswanderung in die Nachbarländer für die Bevölkerungs-Entwicklung von ebenso grosser Bedeutung war wie die Amerika-Auswanderung.

Während die Zahl der in Liechtenstein wohnhaften Liechtensteiner zwischen 1850 und 1900 insgesamt stagnierte und zeitweise sogar zurückging, stieg die Zahl der Ausländer seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts (1815 Ausländeranteil 2,2 %) sowohl relativ wie auch absolut ständig an und erreichte 1995 mit einem Anteil von 39,1 % an der Gesamt-Bevölkerung einen Höchststand. Infolge des enormen Wirtschaftswachstums war vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1981 eine starke Zuwanderung zu verzeichnen, danach wurde sie durch Begrenzungsmassnahmen gedämpft. Lediglich im Ersten Weltkrieg (wegen der Schliessung der Textilfabriken) und zu Beginn des Zweiten Weltkriegs (wegen politischer Unsicherheit) überwog die Zahl der ausländischer Rückwanderer die der Einwanderer deutlich. Der starke Anstieg des Ausländeranteils ist aber nicht nur durch den grossen Bedarf an Arbeitskräften zu erklären, sondern auch durch eine sehr restriktive Einbürgerungspolitik (→Bürgerrecht). Der markante Rückgang der ausländischen Wohnbevölkerung 1996/97 ist nicht auf Rückwanderungen, sondern auf Massnahmen zur erleichterten Einbürgerung zurückzuführen.

Veränderung der Altersstruktur

Die Altersstruktur hat sich seit 1800 einerseits durch die höhere Lebenserwartung, andererseits durch die Migrationen entscheidend verändert. Die Lebenserwartung ist v.a. dank dem Rückgang der Säuglings- und Kindersterblichkeit und dem höheren Lebensstandard kontinuierlich angestiegen. 1815 waren 22 % der Bevölkerung über 40 Jahre alt, 1941 stieg dieser Anteil auf 33 % und 2000 auf 44 %. Zahlen zur Lebenserwartung liefert die Zivilstandsstatistik erst ab 1960: In diesem Jahr betrug das Durchschnittsalter der verstorbenen Männer 61 Jahre, der verstorbenen Frauen 65 Jahre. 2007 lagen diese Zahlen bei 74 Jahren für die Männer und bei 79 Jahren für die Frauen.

Bei einem natürlichen Bevölkerungs-Wachstum hat die Darstellung der Altersklassen (vgl. Grafik) die Form einer Pyramide, die sich nach oben kontinuierlich verjüngt. Die Alterspyramide veränderte sich jedoch seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ständig: Durch die Auswanderung von Leuten im erwerbsfähigen Alter waren Ende 19. Jahrhundert die Altersklassen zwischen 20 und 40 deutlich geschwächt. Für 1941 zeigt die Grafik annähernd eine klassische Alterspyramide, die im folgenden Jahrzehnt infolge des Babybooms eine Glockenform annimmt. Durch die starke Zuwanderung von jungen Leuten im erwerbsfähigen Alter und durch den Rückgang der Geburtenrate geht die Alterspyramide in eine Zwiebel über – die stärksten Altersklassen waren nun diejenigen zwischen 20 und 40 Jahren. Durch die Alterung der Gesellschaft und die Begrenzung der Zuwanderung rutscht der «Bauch» nach oben, die Grafik zeigt für das Jahr 2000 eine Urne. Die langfristigen Trends in der Bevölkerungentwicklung – Rückgang des Anteils der Jugendlichen und Anstieg der Alten – führten zu Diskussionen um eine Überalterung der Gesellschaft und damit verbunden um die Sicherheit der Sozialversicherungssysteme.

Quellen

Literatur

Zitierweise

<<Autor>>, «Bevölkerung», Stand: 31.12.2011, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), URL: <<URL>>, abgerufen am 16.2.2025.

Medien

Wohnbevölkerung in den Jahren der Volkszählungen 1812–2015
Geburten- und Sterberate, natürliche Wachstumsrate, 1800-1998
Altersverteilung nach Geschlecht, 1930-2000