
Chiasso-Skandal
Autor: Hanspeter Lussy | Stand: 31.12.2011
Der Chiasso-Skandal erschütterte 1977 das Vertrauen in die schweizerischen Banken und deckte die Missbrauchsanfälligkeit des liechtensteinischen Finanzplatzes auf. Die Filiale Chiasso der Schweizerischen Kreditanstalt (SKA) legte 1961–77 italienische Kapitalfluchtgelder (2,2 Mia. Fr.) nicht wie vorgegeben bei ersten Bankadressen im Euromarkt an, sondern bei der 1961 bei der Vaduzer Präsidial-Anstalt gegründeten Texon Finanzanstalt, Vaduz. Die Texon wurde von ihrer Niederlassung in Chiasso aus verwaltet und übte in Liechtenstein keine Tätigkeit aus. Sie investierte die Mittel bei italienischen Firmengruppen, denen sie grosse Betriebskredite in Lire gab. Ab 1969 brachten das Sinken des Lire-Kurses und damit der Einnahmen aus den Italien-Engagements die Texon in Schwierigkeiten. Im April 1977 wurden die Geschäfte aufgedeckt. Die Texon hatte, ohne über eine Konzession zu verfügen, bewilligungspflichtige Bankgeschäfte getätigt und neben 190 Mio. Fr. an schweizerischen Verrechnungssteuern 80 Mio. Fr. an Negativzinsen hinterzogen (in Verletzung liechtensteinischer Gesetze und unter Umgehung der schweizerischen Währungsschutzmassnahmen). Den italienischen Kunden waren in krimineller Weise Rückzahlungsgarantien der SKA ausgestellt worden. Der Präsident der SKA-Generaldirektion trat zurück, die Tessiner Hauptverantwortlichen wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Die liechtensteinischen Vertreter im Texon-Verwaltungsrat blieben ungestraft. Sie hatten keine Einsicht in die Aktivitäten der Finanzgesellschaft gehabt und sich damit nach liechtensteinischem Recht keines Vergehens schuldig gemacht. Die SKA übernahm die Texon und liquidierte bis Ende der 1980er Jahre das italienische Texon-Imperium. Ihr entstand aus dem Chiasso-Skandal ein Verlust von rund 1,4 Mia. Fr.
Als Reaktion auf den Chiasso-Skandal unterwarfen sich die schweizerischen und liechtensteinischen Banken noch 1977 den ersten Sorgfaltspflichtregeln über die Entgegennahme von Geldern und die Handhabung des Bankgeheimnisses. 1977–80 nahm Liechtenstein neue Tatbestände betr. Wirtschaftsdelikte ins Strafgesetz auf und reformierte das Gesellschaftsrecht, um Missbräuche verhindern zu können (Finanzdienstleistungen). Erst nach diesen auch von der Schweiz geforderten Massnahmen war die Schweiz bereit, mit Liechtenstein einen Währungsvertrag abzuschliessen.
Literatur
- Alexander Meili: Geschichte des Bankwesen in Liechtenstein (1945–1980), Frauenfeld 2001, S. 109–118.
- Joseph Jung: Von der Schweizerischen Kreditanstalt zur Credit Suisse Group. Eine Bankengeschichte, Zürich 2000, S. 245–287.
- Rudolf Bächthold, Peter Haenle, Peter Kratz, Wolfgang Winter: Eine Adresse in Liechtenstein. Finanzdrehscheibe und Steuerparadies, Wiesbaden 1979, S. 45–56.
- Max Mabillard, Roger de Weck: Der Fall Chiasso. Aus dem Französischen übersetzt von Ernst Bollinger, Genf 1977.
Zitierweise
<<Autor>>, «Chiasso-Skandal», Stand: 31.12.2011, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), URL: <<URL>>, abgerufen am 16.2.2025.