Churrätien

Autor: Max Hilfiker | Stand: 31.12.2011

Churrätien oder Churwalchen (von welsch = romanisch) bezeichnet den Bischofsstaat, der im 7. Jahrhundert aus den Resten der römischen Provinz Raetia prima entstand und gebietsmässig mit dem Bistum Chur identisch war. Die Randlage in der Zeit des Ostgoten- und des Langobardenreichs ermöglichte dem Alpenland trotz formeller Zugehörigkeit zum Frankenreich ab 536 eine grosse Selbständigkeit. Die Bodenfunde belegen einen regen Handelsverkehr über die Bündner Pässe. Die zivile Verwaltung durch einen Präses lag offenbar in einheimischen Händen, während die Ostgoten formell einen Militärführer als dux Raetiae zum Schutz der Grenze einsetzten. Um 600 wird die Familie der Victoriden fassbar, die während 200 Jahren das Bischofs- wie das Präses-Amt innehatte, oft sogar in derselben Hand vereinigte. Indes fiel ein grosser Teil von Tirol an Bayern, und durch die Ansiedlung von Alamannen gingen nördliche und östliche Bereiche der ehemaligen römischen Provinz verloren. Nach der Abgrenzung zum jüngeren Bistum Konstanz umfasste Churrätien den heutigen Kanton Graubünden ohne das Puschlav und das Bergell, aber mit dem Vinschgau bis Meran im Osten sowie das Urserental im Westen, das Gasterland westlich des Walensees, das Sarganserland, das Toggenburg, St. Gallen, das Rheintal ab Altstätten und Götzis sowie Appenzell, Liechtenstein, Vorarlberg, das obere Illertal, Paznaun und Landeck.

Erst Karl der Grosse, der die strategische Bedeutung des Passlands erfasste, gelang es, Churrätien enger in die fränkische Zentralverwaltung einzubinden. Dies geschah nach dem Aussterben der Victoriden, deren Macht im Tello-Testament von 765 offenbar wird. Nun wurde ein Schutzverhältnis mit dem Bischof begründet, der traditionsgemäss noch weltliche und geistliche Macht innehatte; danach wurde ein landfremder Bischof eingesetzt und schliesslich zur Einführung der Grafschaftsverfassung unter einem fränkischen Grafen um 806 die Teilung der kirchlichen und weltlichen Macht vollzogen. Dies bedingte eine Aufteilung des Reichs- und des Kirchenguts, wodurch die materielle und politische Macht des Bistums drastisch vermindert wurde. Vollendet wurde die Neuordnung 843 durch die kirchliche Abtrennung vom Metropolitanverband Mailand und die Unterstellung unter Mainz mit von nun an stets germanischstämmigen Bischöfen. Die Ablösung der bischöflich-einheimischen Führungsschicht durch fränkische und alamannische Lehensleute verstärkte den Germanisierungsschub. Im 10. Jahrhundert erfolgte die Zweiteilung in Ober- und Unterrätien mit der Grenze am Rätikon. Churrätien wurde nach dem Aussterben der ostfränkischen Karolinger um 917 Teil des Herzogtums Schwaben oder Alamannien. Die feste Bindung ans Reich und damit die Grafschaftsordnung wurde allmählich aufgelöst. In der Folge gelang es den Bischöfen von Chur, durch Schenkungen der letzten Karolinger, der Ottonen und der Staufer grosse Teile nicht nur des Herrschaftsgebiets, sondern auch der politischen Macht zurückzugewinnen. 1170 wurde der Bischof von Kaiser Friedrich I. Barbarossa zum Reichsfürsten erhoben. Mit dem Kauf von Herrschaften und ausgedehntem Burgenbau versuchten die Fürstbischöfe, wie die Klöster und die aufstrebenden Adelsgeschlechter, ihre Macht zu sichern und die Pässe unter ihre Kontrolle zu bringen. Ab der Mitte des 14. Jahrhunderts gewannen infolge des Aussterbens der Freiherren von Belmont und von Vaz auswärtige Adelsfamilien wie die Grafen von Werdenberg und von Toggenburg Einfluss in Churrätien. Zudem war der Bischof als Reichsfürst häufig abwesend und hoch verschuldet. Die Habsburger, die sich ab 1363 in Tirol und in Teilen Vorarlbergs festgesetzt hatten, wollten dem Bischof gegen Abtretung seiner weltlichen Befugnisse ein Jahrgeld zahlen. Dagegen wehrten sich das Domkapitel, der bischöfliche Dienstadel, die Stadt Chur und die Gemeinden des Gotteshauses, wie die bischöflichen Herrschaftsleute hiessen, und schlossen 1367 einen Hilfsvertrag (Gotteshausbund). Dieser entzog dem Bischof die Verfügungsgewalt über die Güter und Untertanen des Bistums und gewährte den Beteiligten ein Mitspracherecht. Nicht nur im Gotteshausbund verlor der Bischof allmählich seine weltliche Macht; aus Churrätien wurde nach 1450 der Dreibündestaat (→ Graubünden).

Literatur

  • Sebastian Grüninger: Grundherrschaft im frühmittelalterlichen Churrätien. Ländliche Herrschaftsformen, Personenverbände und Wirtschaftsstrukturen zwischen Forschungsmodellen und regionaler Quellenbasis, Chur 2006.
  • Reinhold Kaiser: Churrätien im frühen Mittelalter. Ende 5. bis Mitte 10. Jahrhundert, hg. vom Verein für Bündner Kulturforschung, Chur und der Gedächtnisstiftung Peter Kaiser (1793–1864), Basel 1998.
  • Handbuch der Bündner Geschichte (HbGR), hg. vom Verein für Bündner Kulturforschung, Bd. 1: Frühzeit bis Mittelalter, 2. Auflage, Chur 2005.

Zitierweise

<<Autor>>, «Churrätien», Stand: 31.12.2011, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), URL: <<URL>>, abgerufen am 12.2.2025.

Medien

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