
Dorf
Autor: Bernd Marquardt | Stand: 31.12.2011
Das Dorf ist eine Dauersiedlung, die überwiegend von der landwirtschaftlichen Produktion lebt und in ihrem Kern aus Bauernhöfen besteht, die von einzelnen Handwerksbetrieben, etwa einer Schmiede, ergänzt werden. Zudem gehören öffentliche Einrichtungen wie ein Versammlungsplatz, eine Kirche, Wege und Brunnen zum Dorf. Ein ergänzendes Merkmal liegt im Fehlen eines besonderen Stadtrechts.
In Liechtenstein lassen sich archäologische Spuren, die auf dörfliche Siedlungen hinweisen bis in die Mitte des 5. Jahrtausends v. Chr. zurückverfolgen. Erstmals in das Licht urkundlicher Erwähnung traten liechtensteinische Dörfer um die erste Jahrtausendwende, so um 842 Balzers, Mäls, Schaan und Eschen, 896 Ruggell und 1045 Bendern. Von grosser Bedeutung war der grosse Rodungs- und Erschliessungsschub des 11.–13. Jahrhunderts, welcher eine herrschaftlich-genossenschaftliche Agrarverfassung schuf. Hierbei entwickelten sich Dörfer zu Dorfgemeinden (→ Gemeinde) mit gemeinschaftlich genutzten Agrarflächen, den Allmenden.
Für die konkrete Ortswahl einer Dorfgründung waren umwelträumliche-topografische und wirtschaftliche Bedingungen ausschlaggebend. In Liechtenstein wurden die vom Rheinhochwasser geschützten Saumlagen etwas oberhalb der Talebene am Berghang bevorzugt. Sie lagen zudem verkehrsgünstig entlang der wichtigen alpenquerenden Reichsstrasse (Balzers, Triesen, Vaduz, Schaan, Nendeln, Schaanwald). Zudem erwiesen sich die Ränder und die mittleren Höhenlagen des Eschnerbergs als günstig. In alpine Höhenlagen drangen erst die Walsergründungen Planken und Triesenberg vor, als in der Endphase des hochmittelalterlichen Landesausbaus während des 13. Jahrhunderts die letzten agrarischen Erschliessungsspielräume in ökologisch nachteiligeren Lagen ausgereizt wurden. Das Erscheinungsbild entsprach meist dem Haufendorf, z. T. mit Tendenzen zum Strassendorf (Vaduz), während die Höhensiedlungen auf dem Eschnerberg und in Triesenberg eine weit gestreute Siedlungsstruktur aufwiesen. Manches Dorf umfasste nur wenige Höfe, während Schaan und Vaduz um 1600 auf etwa 110 Haushalte kamen. Im Zentrum befand sich als spirituelles Herz die Kirche. Nach aussen hin wurde der dörfliche Siedlungsbereich von dem als Flechtzaun errichteten Etter abgegrenzt. Er bot Schutz gegen äussere Feinde und hegte das Dorf als Sonderfriedensbereich ein. Innerhalb befanden sich neben dem Wohn- und Stallbereich auch Gärten, die der Versorgung der Bewohner mit Obst, Gemüse und Kräutern dienten. Die hier entstandene Siedlungsstruktur blieb im Wesentlichen bis ins beginnende 20. Jahrhundert bestehen.
Nicht jedes Dorf war eine Dorfgemeinde. Vaduz und Planken, die ursprünglich zusammen mit Schaan eine Gemeinde bildeten, wurden erst im beginnenden 19. Jahrhundert selbständige Gemeinden, Mäls, Bendern, Nendeln und Schaanwald blieben Teile einer jeweils mehr als ein Dorf umfassenden Gemeinde.
Der Hauptzweck der dörflichen Organisation lag in der Optimierung der bäuerlichen Landnutzung zum gemeinsamen Nutzen. Das Dorf richtete Dorffeste aus und organisierte privat betriebene Gemeinschaftseinrichtungen wie das für die Freizeitgestaltung zentrale Gasthaus, die Schmiede oder die Mühle. Wichtige Entscheidungen wurden an Dorfversammlungen getroffen. Auftretende Nutzungskonflikte entschied das Dorfgericht. Seit dem 16. Jahrhundert gingen die liechtensteinische Dörfer dazu über, ihr Ortsrecht beweiskräftig in Dorfordnungen zu verschriftlichen.
Für die Nutzung der dorfeigenen Alpweiden sind seit dem Spätmittelalter dörfliche Alpgenossenschaften nachweisbar. Bisweilen bildeten sich innerhalb eines Dorfs Alpgenossenschaften für einzelne Dorfteile. In Schaan trifft dies auf die Dorfteile an der St. Lorenzgasse und an der St. Petersgasse, in Triesen auf das Oberdorf und das Unterdorf zu.
Das spätmittelalterliche-frühneuzeitliche Dorf war weder politisch noch ökonomisch eine Gemeinschaft von Gleichen. Hier lebten sowohl vollberechtigte Gemeindeangehörige als auch minderberechtigte Hintersassen. Zudem sorgten Erbteilungen für eine starke soziale Differenzierung von der Vollstelle des Dorfpatriziats bis hin zur Bruchteilsstelle am Rand des Existenzminimums; so wies das Steuerbuch von 1584 Vaduzer Vermögen zwischen 3500 Gulden beim Ammann Heinrich Quaderer und 20 Gulden beim Forstknecht Caspar Schrof aus.
Einen bis heute wirkenden Veränderungsprozess leitete das frühe 19. Jahrhundert ein: Dörfliche Gemeinderechte wurden zunächst eingeschränkt und Allmenden aufgeteilt. Die in Liechtenstein 1861 einsetzende Industrialisierung liess neben dem traditionellen Dorfhandwerk neuartige Gewerbebetriebe entstehen. Die Jahrzehnte um 1900 brachten einen Aus- und Aufbau des Verkehrsnetzes, von Telegrafenanbindungen und kommunalen Wasserversorgungseinrichtungen. Ein zweiter Industrialisierungsschub hatte zur Folge, dass seit den 1950er Jahren das bislang dominante landwirtschaftliche Gepräge von einer neuartigen Gewerbe- und Dienstleistungskultur überlagert wurde. Ein starkes Bevölkerungswachstum liess die Wohngebiete stark in die landwirtschaftlichen Nutzflächen hineinwachsen. Die Bebauungszone nahm besonders entlang der Nord-Süd-Strasse agglomerierende stadtähnliche Züge an. Das Dorf verlor ein gutes Stück seines relativ geschlossenen Charakters, entfaltete aber in Dorfvereinen und Dorfmuseen ein fortwirkendes Eigenleben.
Archive
- Liechtensteinisches Landesarchiv, Vaduz (LI LA).
Quellen
- Joseph Ospelt: Das Legerbuch oder Steuerbuch vom Jahre 1584, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 30 (1930), S. 5-43.
Literatur
- Ulrike Mayr: Das Haus, in dem wir wohnen, in: Bauen für Liechtenstein, Vaduz 2000, S. 48–73.
- Karl Bader: Die Rechtsgeschichte der ländlichen Siedlung, in: Deutsche Rechtsgeschichte, hg. von Karl Bader, Gerhard Dilcher, Berlin 1999, S. 3–247.
- Fabian Frommelt: Das Dorf Triesen im Mittelalter, in: Bausteine zur liechtensteinischen Geschichte. Studien und studentische Forschungsbeiträge, hg. von Arthur Brunhart, Bd. 1: Vaduz und Schellenberg im Mittelalter, Zürich 1999, S. 113–161.
- Arthur Brunhart: Ein Dorf im Wandel, in: Balzner Neujahrsblätter 1995, Jg. 1 (1994), S. 7–17.
- Florin Frick: Siedlungsstrukturen. Überlegungen zu den Grundzügen verschiedener Siedlungen in Liechtenstein, in: Unsere Kunstdenkmäler Nr. 2, Bern 1992, S. 249–262.
- Mario Broggi: Der Landschaftswandel im Talraum des Fürstentums Liechtensteins, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 86 (1986), S. 7–326, hier S. 87–117, S. 244–248.
- Werner Rösener et al.: Dorf, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 3 (1986), Sp. 1266–1285.
- Karl Siegfried Bader: Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes, 3 Bände, Wien 1973–81.
Zitierweise
<<Autor>>, «Dorf», Stand: 31.12.2011, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), URL: <<URL>>, abgerufen am 10.2.2025.