
Erster Weltkrieg
Autor: Rupert Quaderer | Stand: 31.12.2011
Im Ersten Weltkrieg (1914–18) entluden sich zwischen den Mittelmächten (Deutschland, Österreich-Ungarn, Türkei, Bulgarien) und den Ententestaaten (England, Frankreich, Russland, ab 1915 Italien, ab 1917 USA) und ihren Verbündeten teils jahrzehntealte, durch den Imperialismus, das deutsche Hegemoniestreben sowie eine Kette von Auseinandersetzungen und Krisen angeheizte internationale Spannungen. Ausgelöst wurde der Erste Weltkrieg durch die Ermordung des österreichischen Thronfolgers, Erzherzog Franz Ferdinand, am 28.6.1914 in Sarajevo. Nach der Niederlage der Mittelmächte 1918 wurde in Deutschland die Monarchie durch die Republik ersetzt, Österreich-Ungarn zerfiel in verschiedene Staaten und bereits 1917 war in Russland der Zar gestürzt worden. Obwohl Liechtenstein nicht am Ersten Welkrieg beteiligt war, bekam es dessen Auswirkungen mannigfaltig zu spüren. Der Erste Weltkrieg stellte eine Zäsur dar, die eine innen- und aussenpolitische Neuorientierung einleitete.
Die Bevölkerung, die staatlichen und die kirchlichen Organe, die beiden Landeszeitungen sowie das Fürstenhaus standen beim Kriegsausbruch auf der Seite der Mittelmächte und speziell Österreich-Ungarns, mit dem seit 1852 eine Zollunion bestand. Liechtenstein gab beim Kriegsbeginn keine Neutralitätserklärung ab, weil die Verantwortlichen der Ansicht waren, der Krieg werde nur von kurzer Dauer sein und die internationale Staatenwelt erwarte eine solche Erklärung von einem Kleinstaat ohne Armee nicht. Die anfängliche Kriegseuphorie wurde bald gedämpft. Die Verunsicherung der Bevölkerung kam z.B. im gesteigerten Abheben von Spargeldern aus der Sparkassa und im Hamstern von Lebensmitteln zum Ausdruck.
Ab Herbst 1914 begannen die Lebensmittellieferungen aus Österreich-Ungarn zu stocken und die Regierung musste neue Bezugsquellen in der Schweiz erschliessen. Nun machte sich die unterlassene Neutralitätserklärung negativ bemerkbar. Die Regierungen Frankreichs, Grossbritanniens und Italiens stellten Liechtenstein im Februar 1916 hinsichtlich des Handelsverkehrs den feindlichen Territorien gleich, weil sie das Fürstentum aufgrund seiner engen Verbindung mit Österreich-Ungarn als feindlichen Staat betrachteten. Die Schweiz musste ihre Warenlieferungen nach Liechtenstein stoppen. Bereits beim Kriegsausbruch hatten sich für Auslandsliechtensteiner in den Ententestaaten grosse Nachteile bemerkbar gemacht. Sie waren interniert oder ihr Vermögen unter Sequester gestellt worden. Aufgrund dieser Entwicklung hatte die liechtensteinische Regierung ab September 1914 bei verschiedenen Anlässen erklärt, dass sich Liechtenstein neutral verhalte und ein von Österreich unabhängiger Staat sei (→ Souveränität).
Zur Sicherung der Lebensmittel- und Rohstoffversorgung und zur Unterstützung Bedürftiger wählte der Landtag am 14.12.1914 eine Landesnotstandskommission (→ Notstandskommissionen). Am 30.12.1916 kamen Lokalnotstandskommissionen in den Gemeinden hinzu. Die Regierung und die Landesnotstandskommission erliessen Vorschriften für Höchstpreise und für die Vergrösserung der landwirtschaftlichen Anbaufläche, Exportbeschränkungen und -verbote sowie Rationierungsmassnahmen. Die Regierung versuchte zudem mit Notstandsarbeiten (Strassenarbeiten, Rüfeverbauungen), der Abgabe von verbilligten Lebensmitteln und der Beschlagnahmung von Lebensmitteln die Krise zu bekämpfen. Dennoch kam es in Teilen der Bevölkerung zu Lebensmittelknappheit, v.a. als die ab 1916 aus Österreich wieder erfolgten Lebensmittellieferungen erneut ins Stocken gerieten. Aber auch andere Produkte des täglichen Lebens wie Leder, Petroleum, Wolle oder Kohle waren teilweise nicht mehr erhältlich. Dies führte zu einer eklatanten Zunahme des Schmuggels und zu Teuerung. Zudem verminderte die Inflation der österreichischen Krone den Wert der liechtensteinischen Sparguthaben (→ Geld).
Durch Massnahmen wie die verbilligte Abgabe von Lebensmitteln erhöhten sich die Staatsausgaben. Bis Ende 1915 bezog Liechtenstein für 525 483 Kronen Lebensmittel aus dem Ausland, bei budgetierten Staatseinnahmen von 283 430 Kronen. Da zudem die Staatseinnahmen sanken, v.a. aufgrund des Rückgangs der Zollgelder, kam es zu einer starken Verminderung der Finanzreserven und zu einer hohen Staatsverschuldung (Staatsdefizit 1915: 144 289 Kronen). Die Landesrechnung konnte zwar 1918 wieder ausgeglichen gestaltet werden, da neue Steuern wie die Kriegsgewinnsteuer erhöhte Einnahmen brachten, andererseits war die Lebensmittelschuld in der Schweiz auf 413 638 Fr. angewachsen.
Der Krieg traf auch die liechtensteinische Textilindustrie schwer. Kurz nach dem Kriegsausbruch mussten die Betriebe ihre Produktion wegen Rohstoffmangels auf die Hälfte reduzieren und in der zweiten Hälfte des Jahres 1917 wurde der Betrieb der Spinnerei in Vaduz und der Weberei Triesen eingestellt. Zudem fanden die liechtensteinischen Saisonniers in der Schweiz kaum noch Verdienstmöglichkeiten.
Der Krieg führte zudem zu erschwerten Bedingungen im kleinen Grenzverkehr mit der Schweiz. Der Handels- und der Personenverkehr wurden eingeschränkt und zeitweise ganz unterbunden, die Kontrollen an der schweizerischen Grenze verschärft (1917 Einführung des Passzwangs). Nach Österreich war der Grenzübertritt bereits ab Januar 1915 nur mehr mit Pass möglich.
Direkt ins Kriegsgeschehen involviert wurden die in Liechtenstein wohnhaften, von ihren Heimatstaaten einberufenen wehrpflichtigen Ausländer, v.a. Österreicher und Deutsche. 27 von ihnen fielen nachweislich bzw. gelten als vermisst. Ebenfalls nicht aus dem Krieg zurückkamen vier der rund ein Dutzend als Freiwillige ins deutsche und österreichische Heer eingerückten Liechtensteiner. Einige dieser Freiwilligen waren kurze Zeit im Einsatz, andere während des ganzen Kriegs. Zudem kämpften mehrere Mitglieder des Hauses Liechtenstein für Österreich. Prinz Heinrich, ein Onkel Franz Josefs II., erlag am 16. August 1915 seinen im Krieg erlittenen Verletzungen. Mehrere Personen aus Liechtenstein wurden wegen Spionage zu Haftstrafen verurteilt.
Da man nicht mit einer langen Dauer des Kriegs rechnete, wurden beim Kriegsausbruch weder auf der politischen (Neutralitätsfrage) noch auf der wirtschaftlichen Ebene (Lebensmittelrationierung) vorbereitende Regelungen verfügt. Die Bevölkerung sah die improvisierten Massnahmen der öffentlichen Hand oft als unzureichend an. Dies führte in Teilen der Bevölkerung zu einem Anwachsen der Unzufriedenheit über die Regierung und v.a. Landesverweser Leopold von Imhof. Dieser Unmut bot der sich seit 1913/14 formierenden politischen Opposition um Wilhelm Beck und ihrer Zeitung «Oberrheinische Nachrichten» Anlass und Gelegenheit, sich zu organisieren und zu profilieren. Noch vor dem Kriegsende kam es 1918 zur Bildung der ersten liechtensteinischen Parteien und in der Folge zur aussenpolitischen Umorientierung von Österreich zur Schweiz und 1921 zu einer Umgestaltung der Verfassung.
Bei den Friedensverhandlungen in Paris und beim Abschluss des Versailler Vertrags war Liechtenstein trotz intensiver diplomatischer Bemühungen nicht vertreten, erhielt aber durch seine Nennung im Vertrag von Saint-Germain-en-Laye eine indirekte Anerkennung seiner Souveränität.
Literatur
- Rupert Quaderer-Vogt: Bewegte Zeiten in Liechtenstein 1914 bis 1926, 3 Bände, Vaduz /Zürich 2014.
- Veronika Mittermair: Die Neutralität Liechtensteins zwischen öffentlichem und fürstlichem Interesse, in: Bausteine zur liechtensteinischen Geschichte. Studien und studentische Forschungsbeiträge, hg. von Arthur Brunhart, Bd. 3: 19. Jahrhundert. Modellfall Liechtenstein, Zürich 1999, S. 43–97.
- Christof Dünser: Das Fürstentum Liechtenstein im Ersten Weltkrieg, Innsbruck 1984.
- Livia Brotschi-Zamboni: Die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die liechtensteinische Aussenpolitik, in: Beiträge zur liechtensteinischen Staatspolitik, Vaduz 1973, S. 9–20.
Zitierweise
<<Autor>>, «Erster Weltkrieg», Stand: 31.12.2011, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), URL: <<URL>>, abgerufen am 10.2.2025.
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