
Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)
Autor/Autorin: Philipp Mittelberger, Patricia Schiess | Stand: 27.6.2024
Die vom Europarat ausgearbeitete, am 4.11.1950 in Rom unterzeichnete und am 3.9.1953 in Kraft getretene EMRK ist ein multilateraler völkerrechtlicher Vertrag, der vorwiegend Menschenrechte sowie bürgerliche und politische Grundfreiheiten schützt (insbesondere Recht auf Leben und Freiheit, Achtung des Privat- und Familienlebens, Gewissens-, Religions-, Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Verbot von Folter und Sklaverei; justizielle Rechte wie Anspruch auf rechtliches Gehör usw.). In bislang 16 Zusatzprotokollen wurde die EMRK materiell oder hinsichtlich des Verfahrens ergänzt und abgeändert. Sie kann nur von Mitgliedstaaten des Europarats unterzeichnet und ratifiziert werden (2024: 46 Vertragsparteien).
Von grosser Bedeutung ist das in der EMRK verankerte völkerrechtliche Verfahren zur Durchsetzung der garantierten Rechte: Staaten (Staatenbeschwerde) und Privatpersonen (Individualbeschwerde) können vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg Beschwerde gegen Vertragsstaaten führen. Individualbeschwerden setzen unter anderem die vorgängige Ausschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe voraus. Pro Jahr werden mehr als 50 000 Individualbeschwerden an den EGMR herangetragen. Die vom EGMR verurteilten Staaten sind verpflichtet, die Urteile des EGMR umzusetzen, was vom Ministerkomitee des Europarats überwacht wird. Staatenbeschwerden kommen nur selten vor.
Für Liechtenstein trat die Konvention am 8.9.1982 in Kraft; zugleich anerkannte Liechtenstein die Individualbeschwerde vor der (1998 abgeschafften) Menschenrechtskommission und die Gerichtsbarkeit des EGMR (beides war damals nicht Pflicht). Die unmittelbar anwendbaren EMRK-Normen erlangen in Liechtenstein zusammen mit der völkerrechtlichen auch landesrechtliche Wirkung (monistisches System). Die EMRK ergänzt den Grundrechtskatalog der liechtensteinischen Verfassung und hat materiell Verfassungsrang. Die Lehre spricht ihr «Übergesetzesrang» oder «faktischen Verfassungsrang» zu. Wie jeder Vertragsstaat stellt auch Liechtenstein einen Richter oder eine Richterin im EGMR.
Liechtenstein hat alle Zusatzprotokolle zur EMRK bis auf zwei ratifiziert. Nicht ratifiziert hat es – so wie seine Nachbarstaaten Schweiz und Österreich – das Zusatzprotokoll Nr. 12, das ein grundsätzliches Diskriminierungsverbot enthält, sowie das Zusatzprotokoll Nr. 16, das den obersten Gerichten der Vertragsstaaten das Recht gibt, beim EGMR Gutachten einzuholen.
Vor liechtensteinischen Behörden und Gerichten kann jede Partei zur Stützung ihrer Rechtsposition auch EGMR-Urteile anführen, die nicht gegen Liechtenstein ergingen, zeigt doch jedes Urteil des EGMR jedem Mitgliedstaat, wie die EMRK auszulegen und anzuwenden ist. Der Staatsgerichtshof sieht seine Rolle darin, unnötige Verurteilungen Liechtensteins durch den EGMR zu vermeiden. Entsprechend berücksichtigt seine Rechtsprechung diejenige des EGMR.
In bislang sieben Fällen wurde Liechtenstein durch den EGMR verurteilt, so 1999 in der politisch brisanten Klage des Richters Herbert Wille wegen Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäusserung. 2021 stellte der EGMR fest, dass die Entlassung eines Arztes, der dem Landesspital Sterbehilfe vorgeworfen hatte, nicht gegen die Meinungsäusserungsfreiheit verstiess. Die Feststellung fand im Kontext des Themenbereichs «Whistleblowing» über die Grenzen des Landes hinaus Aufmerksamkeit. Im Zusammenhang mit der Enteignung liechtensteinischer Vermögenswerte durch die damalige Tschechoslowakei im Jahr 1945 kam es zu zwei Klagen vor dem EGMR: 1998 reichte Fürst Hans-Adam II. eine Individualbeschwerde gegen Deutschland ein, in welcher er nach der Nicht-Herausgabe eines 1991 von Brünn (Brno) an eine Ausstellung in Köln gelangten Bildes unter anderem wegen Verletzung des Rechts auf Eigentum klagte; 2020 erhob das Land Liechtenstein eine Staatenbeschwerde gegen die Tschechische Republik.
Quellen
- Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) vom 4.11.1950
Literatur
- Christoph Grabenwarter, Katharina Pabel: Europäische Menschenrechtskonvention, München 72021.
- Patricia M. Schiess Rütimann: Die Stellung der EMRK in Liechtenstein, Bendern 2019 (= Beiträge Liechtenstein-Institut, Nr. 44 ).
- Emanuel Schädler: Die EMRK in der Grundrechtsgeschichte Liechtensteins, in: Liechtensteinische Juristen-Zeitung, Jg. 39 (2018), S. 120–132.
- Patricia M. Schiess Rütimann: Die Freiheiten des liechtensteinischen Gesetzgebers beim Einfügen der EMRK in die nationale Rechtsordnung, in: Liechtensteinische Juristen-Zeitung, Jg. 39 (2018), S. 143–152 .
- Gerard Batliner: Die liechtensteinische Rechtsordnung und die Europäische Menschenrechtskonvention, in: Liechtenstein: Kleinheit und Interdependenz, hg. von Peter Geiger, Arno Waschkuhn, Vaduz 1990 (= Liechtenstein Politische Schriften, Bd. 14), S. 91–180.
Zitierweise
<<Autor>>, «Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)», Stand: 27.6.2024, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), URL: <<URL>>, abgerufen am 7.2.2025.