Europarat

Autor/Autorin: Philipp Mittelberger, Patricia Schiess | Stand: 27.6.2024

Am 5.5.1949 durch zehn europäische Staaten gegründete internationale Organisation mit Sitz in Strassburg (F); 46 Mitglieder (2024). Hinter der Gründung stand die nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs gestärkte «europäische Idee»: der Wille zur engeren Verbindung der europäischen Staaten auf wirtschaftlichem, sozialem, kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet, besonders zur Förderung der pluralistischen Demokratie, des Rechtsstaats, der Menschenrechte und der Grundfreiheiten. Der Europarat entfaltete auf diesen Gebieten grosse Wirksamkeit, wurde aber hinsichtlich der Europäischen Integration von der Europäischen Union überflügelt.

Liechtenstein wurde am 23.11.1978 als 21. Mitgliedsland in den Europarat aufgenommen, was nach dem 1950 erfolgten Beitritt zum Statut des Internationalen Gerichtshofs ein weiterer bedeutender Schritt zur Bekräftigung der liechtensteinischen Eigenstaatlichkeit auf multilateraler Ebene war. Vorausgegangen waren ab 1964/65 intensive diplomatische Bemühungen der liechtensteinischen Regierung zur Überwindung des Widerstands anderer Europaratsstaaten gegen den Beitritt, der sich v.a. auf die Kleinstaatlichkeit, die Frage der Souveränität, das liberale Steuerrecht und das damals fehlende Frauenstimmrecht bezog. Wichtige Schritte auf dem Weg in den Europarat waren der erstmalige Beitritt Liechtensteins zu fünf Europarats-Konventionen 1969, die Einladung liechtensteinischer Parlamentarier als Ad-hoc-Beobachter in die Parlamentarische Versammlung ab 1971 und das Erreichen des offiziellen Beobachterstatus 1974. In Liechtenstein war der Beitritt unumstritten.

Entscheidungsorgan des Europarats ist das Ministerkomitee, das aus den Aussenministern und Aussenministerinnen der Mitgliedsländer besteht, welche in Strassburg durch Delegierte vertreten werden. Liechtenstein führte turnusgemäss dreimal den Vorsitz (Mai bis November 1987, Mai bis November 2001 und November 2023 bis Mai 2024). Die Parlamentarische Versammlung (PACE), bestehend aus Mitgliedern der nationalen Parlamente, hat beratenden Charakter; Liechtenstein stellt in ihr zwei Mitglieder und zwei Stellvertreter. Sie wählt alle sechs Jahre für eine einmalige Amtszeit einen Menschenrechtskommissar, dessen Aufgabe die Förderung des Bewusstseins für die Menschenrechte und ihrer Achtung in den Mitgliedsstaaten ist. Im Kongress der Gemeinden und Regionen Europas (KGRE), der Aufgaben zur Förderung der Gemeinden und Regionen wahrnimmt, ist Liechtenstein ebenfalls mit zwei Delegierten und zwei Stellvertretern präsent. Seit dem Beitritt 1978 verfügt Liechtenstein über eine ständige Vertretung beim Europarat in Strassburg.

Die Spezifität des Europarats besteht in der Ausarbeitung von bislang mehr als 200 rechtlich bindenden Übereinkommen und Konvention in den Bereichen Recht, Menschenrechte, Soziales, Kultur etc., von denen Liechtenstein 91 ratifiziert hat (2024). Die von Liechtenstein ratifizierten Übereinkommen werden als Staatsverträge in der liechtensteinischen Gesetzesdatenbank LILEX veröffentlicht. Dem wohl bedeutendsten Abkommen, der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), ist Liechtenstein am 8.9.1982 beigetreten.

Für verschiedene vom Europarat zu diversen Themen eingerichteten Komitees und Vertragsüberwachungsgremien ist vorgesehen, dass jeder Mitgliedstaat geeignete Expertinnen und Experten ernennt. So stellt Liechtenstein z.B. in der 1990 vom Ministerkomitee gegründeten Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (sogenannte Venedig-Kommission) ein Mitglied plus einen Stellvertreter und je ein Mitglied in der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) sowie im Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT). Der Überwachung mehrerer Übereinkommen des Europarates dient ein regelmässiges Monitoring der Mitgliedstaaten. So evaluiert z.B. die 1999 im Schoss des Europarates geschaffene Staatengruppe gegen Korruption (GRECO) Liechtenstein seit seinem Beitritt im Jahr 2010 regelmässig, so wie auch die anderen Mitglieder der Staatengruppe. Dasselbe gilt z.B. auch für das 1997 geschaffene Expertenkomitee MONEYVAL (zur Bewertung von Massnahmen gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung) und für die genannte, im Jahr 2002 gegründete ECRI. Für das von Liechtenstein 2021 ratifizierte Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (sogenannte Istanbul-Konvention) startete die erste Evaluation Liechtensteins durch die dafür zuständige Expertengruppe GREVIO im Jahr 2022. Diese vielseitige Einbindung ermöglicht es Liechtenstein, bei beschränkten aussenpolitischen Kapazitäten mit verschiedenen Staaten Beziehungen zu pflegen sowie Erfahrungen und Wissen auszutauschen.

Der Europarat spielte bei innenpolitischen Auseinandersetzungen um demokratische Rechte in Liechtenstein mehrmals eine Rolle. Im September 1983 reisten zwölf Frauenrechtsaktivistinnen der Aktion Dornröschen zum Europarat nach Strassburg, um dort durch Gespräche mit Parlamentarierinnen und Parlamentariern den äusseren Druck zugunsten der Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts in Liechtenstein zu erhöhen. Im Jahr 2002 überprüfte die Venedig-Kommission nach einem Ersuchen von 53 Personen aus Liechtenstein an den Europarat die im Kontext der sogenannten Verfassungsdiskussion (→ Verfassung) eingebrachte Verfassungsvorlage des Fürstenhauses. Sie kam dabei zum Schluss, dass diese mit den demokratischen Prinzipien des Europarats in Teilen nicht vereinbar sei. Ein 2003 nach der Annahme der Verfassungsnovelle eingeleitetes sogenanntes Dialogverfahren endete 2006 allerdings weitgehend folgenlos.

Quellen

Literatur

  • Knut Ipsen: Völkerrecht, München 82024, S. 216–223.
  • Claudia K. Lanter: Aufgewacht! Der dornige Weg zum Frauenwahlrecht in Liechtenstein, Triesen 2022, S. 181–200.
  • Christoph Maria Merki: Die Geschichte der liechtensteinischen Aussenpolitik seit 1950, Bendern 2020 (=Arbeitspapiere Liechtenstein-Institut, Nr. 67), S. 26–40.
  • Schwerpunkte und Ziele der liechtensteinischen Aussenpolitik, hg. von der Regierung des Fürstentums Liechtenstein, Vaduz 2019.
  • Insight. Liechtenstein im Europarat 1978 bis 2018, hg. vom Ministerium für Äusseres, Justiz und Kultur, Vaduz 2018.
  • Christoph Maria Merki: Liechtensteins Verfassung, 1992–2003. Ein Quellen- und Lesebuch, Vaduz/Zürich 2015, S. 643–662.
  • Frank Marcinkowski, Wilfried Marxer: Öffentlichkeit, öffentliche Meinung und direkte Demokratie. Eine Fallstudie zur Verfassungsreform in Liechtenstein, Schaan 2010 (= Liechtenstein Politische Schriften, Bd. 47), S. 118.
  • Markus-René Seiler: Kleinststaaten im Europarat, in: Der Kleinstaat als Akteur in den internationalen Beziehungen, hg. von Erhard Busek, Waldemar Hummer, Vaduz 2004 (= Liechtenstein Politische Schriften, Bd. 39), S. 292–317.
  • Zielsetzungen und Prioritäten der liechtensteinischen Aussenpolitik, hg. von der Regierung des Fürstentums Liechtenstein, Vaduz 1997, S. 24–31.
  • Markus-René Seiler: Liechtensteins Weg in den Europarat, in: Liechtensteinische Juristen-Zeitung, Jg. 15 (1994), S. 5–15.
  • Nikolaus von Liechtenstein: Liechtensteins Mitgliedschaft im Europarat, in: Liechtenstein in Europa, Vaduz 1984 (= Liechtenstein Politische Schriften, Bd. 10), S. 195–225.

Externe Links

Zitierweise

<<Autor>>, «Europarat», Stand: 27.6.2024, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), URL: <<URL>>, abgerufen am 8.2.2025.

Medien

Parlamentarische Versammlung des Europarats, 1982 (LI LA). Von rechts: Gerard Batliner, Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung, Franz Beck, Leiter der Delegation der Parlamentarischen Versammlung des Europarats.
Aktivistinnen der «Aktion Dornröschen» tauschen sich am 27. September 1983 in Strassburg mit Abgeordneten des Europarats über das fehlende Frauenstimmrecht in Liechtenstein aus. Besondere Unterstützung erfuhren die Frauen von der Schweizer Parlamentarierin Gertrude Girard-Montet (Dritte v. r.). (Frauenarchiv Liechtenstein, LI LI FA AD-PA 181 039-003-003).
Anlässlich des liechtensteinischen Europarats-Vorsitzes von November 2023 bis Mai 2024 wurde für ein Jahr ein «Liechtenstein-Tram» im öffentlichen Verkehrsnetz der Stadt Strassburg eingesetzt. Dekoriert war es u.a. mit dem offiziellen Vorsitz-Logo Liechtensteins (Foto: Europarat)