Flüchtlinge

Autor: Karl Heinz Burmeister | Stand: 31.12.2011

Das liechtensteinische Flüchtlingsgesetz von 1998 definiert Flüchtlinge als Personen, die ihr Heimatland aufgrund von Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Geschlecht, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verlassen haben.

Im Gebiet des heutigen Liechtenstein gewährten die Landesherrn 1637–51 rund 100 kriegsverfolgten Juden sowie 1745–48 aus Sulz (Vorarlberg) vertriebenen Juden Asyl. Das Fürstentum duldete nach dem Sonderbundskrieg Ende 1847 vereinzelt schweizerische Flüchtlinge aus dem konservativen Lager. Der konservative Journalist Josef Mettler hielt sich 1849/50 in Liechtenstein auf. Im Ersten Weltkrieg verweigerte die liechtensteinische Regierung die Übergabe geflohener österreichischer Deserteure sowie aus österreichischer Gefangenschaft entkommener alliierter Soldaten an Österreich. Gemäss den Fremdenpolizeiabkommen von 1923 und 1941 Liechtensteins mit der Schweiz bestimmte diese über die Einreise sowie den Aufenthalt von Drittausländern in Liechtenstein und damit auch über die Aufnahme von Flüchtlingen. Liechtenstein blieb aber bis 1941 bei der Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen relativ autonom (→ Aufenthalts- und Niederlassungsrecht, → Ausländer). Ab 1948 konnte Liechtenstein wieder Jahresaufenthaltsbewilligungen ausstellen. Ab 1963 entschied Liechtenstein in Fragen der Niederlassung erneut autonom.

Infolge der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 sah sich Liechtenstein erstmals mit einem grossen Strom von Flüchtlingen konfrontiert. 1933–45 flohen rund 210 Juden nach Liechtenstein, zahlreiche weitere entkamen via Liechtenstein in die Schweiz oder in ein anderes Drittland – allein 1938 mehrere 100 –, unterstützt von privaten Fluchthelfern aus dem In- und Ausland. In den 1930er Jahren betrieb die liechtensteinische Regierung aufgrund wachsender Flüchtlingszahlen, wirtschaftlicher Probleme wie auch von Antisemitismus in Teilen der Bevölkerung eine restriktive Flüchtlingspolitik. Einreisen durften in der Regel nur wohlhabende jüdische Familien, die keine liechtensteinische Berufstätigen konkurrenzierten. Ab 1935 mussten Flüchtlinge zudem eine Aufenthaltskaution von bis zu 20 000 Fr. bezahlen. Als nach dem Anschluss Österreichs an das Dritte Reich im März 1938 die Zahl der Flüchtlinge aus Österreich stark anstieg, erliess die Regierung im gleichen Monat ein Aufnahmeverbot für Flüchtlinge aus Österreich und im Dezember 1938 einen Flüchtlingseinreisestopp, der indes nicht konsequent eingehalten wurde. 1938 standen den 63 auf Gesuch hin erteilten Aufenthaltsbewilligungen 131 Gesuchsablehnungen gegenüber.

1934–38 fanden in Liechtenstein rund 85 Mitglieder der aus Deutschland vertriebenen christlichen Gemeinschaft der Hutterer (→ Almbruderhof) und 1937 die Maristen-Schulbrüder Aufnahme. Letztere gründeten in Vaduz das Collegium Marianum (→ Liechtensteinisches Gymnasium). Ab 1940 flohen wiederholt aus deutschen Lagern entwichene Kriegsgefangene über Liechtenstein in die Schweiz. Einzelne wurden 1940 von den liechtensteinischen Behörden zurückgeschoben. Im August 1941 sagte die liechtensteinische Regierung den Reichsbehörden zu, Kriegsgefangene festzunehmen und ans Reich auszuliefern, was in der Praxis aber nicht geschah. Am 2./3. Mai 1945 erfolgte der Grenzübertritt der mit Begleitpersonen 494 Menschen umfassenden Russischen Nationalarmee, die in Liechtenstein interniert wurde. Beim Kriegsende 1945 wurden mehr als 7000 Flüchtlinge an der liechtensteinischen Grenze kurzzeitig betreut, u.a. vom damals gegründeten Liechtensteinischen Roten Kreuz (LRK) und den Pfadfindern, und danach in die Schweiz weitergeleitet.

Grössere Flüchtlingsgruppen kamen 1956 aus Ungarn, 1968 aus der Tschechoslowakei (35 Personen) und 1979–88 aus Vietnam nach Liechtenstein; die Aufnahme sozialistischer chilenischer Flüchtlinge wurde 1973 abgelehnt (→ Kalter Krieg). 1993 baten 18 Tibeter in Liechtenstein um Asyl; 1997 schob die Regierung ihre Ausschaffung aufgrund einer Petition des Vereins «Tibet-Unterstützung Liechtenstein» auf. Die Tibeter erhielten 1998 durch einen Entscheid der Verwaltungsbeschwerdeinstanz (seit 2003 Verwaltungsgerichtshof) Asyl.

Mit dem bisher grössten Flüchtlingsstrom sah sich Liechtenstein durch die Kriege in Exjugoslawien in den 1990er Jahren konfrontiert. Ab 1992 erhielten rund 350 Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina und ab 1998 über 600 Kosovaren vorübergehende Schutzgewährung. Probleme brachten v.a. ihre Unterbringung und das Arbeitsverbot für Flüchtlinge (aufgehoben 1998). 1996 wurde die Stelle eines Flüchtlingskoordinators geschaffen und 1998 in Vaduz ein Flüchtlingsheim eröffnet. Nach dem Ende der Auseinandersetzungen auf dem Balkan kehrten die Flüchtlinge grösstenteils in ihre Heimat zurück, die liechtensteinische Regierung leistete Rückkehrhilfe.

Die stark gestiegene Zahl der Flüchtlinge und Asylsuchenden machte die gesetzliche Regelung des Asylwesens nötig. 1998 wurde das Flüchtlingsgesetz erlassen. Über eine Asylgewährung entscheidet gemäss Gesetz die Regierung auf Vorschlag des Ausländer- und Passamts, Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof ist möglich. Anerkannte Flüchtlinge erhalten die Aufenthaltsbewilligung. Gemäss Flüchtlingsgesetz setzte die Regierung 1998 eine Kommission für Flüchtlingsfragen ein, welche die Behörden berät. Die Betreuung von Asylsuchenden in Liechtenstein, welche vorher das Amt für Soziale Dienste innehatte, übertrug die Regierung 1998 dem Verein Flüchtlingshilfe Liechtenstein Dieser war 1998 von der Caritas Liechtenstein, der Stiftung Justitia et Pax und dem Verein für eine offene Kirche gegründet worden.

Die Zahl der Asylgesuche in Liechtenstein ist seit ihrem Höchststand 1999 (522 aus 13 Staaten) stark rückläufig. 2007 betrug sie noch 32 aus 18 Staaten. Liechtenstein hat 1998–2007 bei rund 1350 Asylgesuchen 26 Personen Asyl gewährt und mehr als 200 aus humanitären Gründen eine Aufenthaltsbewilligung erteilt. Seit 2002 hat die Zahl der Migranten zugenommen, die nicht aufgrund von Verfolgung, sondern wegen der schlechten wirtschaftlicher Lage in ihrem Heimatland nach Liechtenstein kommen.

1956 trat Liechtenstein dem internationalen Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Ratifikation 1957) und 1969 dem Europäischen Übereinkommen über die Abschaffung des Visumszwangs für Flüchtlinge bei. Das von Liechtenstein 2008 unterzeichnete und dort Ende 2011 in Kraft getretene Schengen/Dublin-Abkommen beinhaltet u.a. eine gemeinsame Asylpolitik der Mitgliedsstaaten (u.a. zentrale Datenbank über Asylgesuche)

Literatur

  • Wilfried Marxer: Migration und Integration – Geschichte – Probleme – Perspektiven. Studie zuhanden der NGO-Arbeitsgruppe «Integration», Mitarbeit: Manuel Frick, Bendern 2007 (= Arbeitspapiere Liechtenstein-Institut, Nr. 8), S. 72–80.
  • Ursina Jud: Liechtenstein und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus. Studie im Auftrag der Unabhängigen Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Weltkrieg, Vaduz/Zürich 2005 (= Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Weltkrieg, Studie 1).
  • Ibolya Murber: Flucht in den Westen 1956. Ungarnflüchtlinge in Österreich (Vorarlberg) und Liechtenstein, Feldkirch 2002 (= Schriftenreihe der Rheticus Gesellschaft, Bd. 41).
  • Peter Geiger: Krisenzeit. Liechtenstein in den Dreissigerjahren 1928–1939, 2 Bände, Vaduz/Zürich 1997, 22000.
  • Klaus Biedermann: Das Dekanat Liechtenstein 1970 bis 1997. Eine Chronik des kirchlichen Lebens, Vaduz 2000.
  • Peter Geiger, Manfred Schlapp: Russen in Liechtenstein. Flucht und Internierung der Wehrmacht-Armee Holmstons 1945–1948. Mit der Liste der Internierten und dem russischen Tagebuch des Georgij Simon, Vaduz/Zürich 1996.
  • Peter Geiger: Geschichte des Fürstentums Liechtenstein 1848 bis 1866, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 70 (1970), S. 5–418, hier S. 42.

Von der Redaktion nachträglich ergänzt

Zitierweise

<<Autor>>, «Flüchtlinge», Stand: 31.12.2011, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), URL: <<URL>>, abgerufen am 10.2.2025.