
Historiografie
Autor: Arthur Brunhart | Stand: 31.12.2011
Mit dem Begriff Geschichte ist allgemein die Vergangenheit in einem umfassenden Sinn gemeint. Geschichte dient zum einen zur Bezeichnung dessen, was geschehen ist, zum anderen ist sie Kunde und Erzählung von dem, was geschehen ist. Unter Geschichte wird demnach auch die Geschichtswissenschaft verstanden, d.h. die Geschichtsforschung und die Historiografie, die Geschichtsschreibung.
Die Historiografie dient der Darstellung historischer Ereignisse, Tatbestände, Situationen, Prozesse und Entwicklungen sowie der Vermittlung von Erkenntnissen und Erträgen der wissenschaftlich betriebenen Geschichtsforschung und der geschichtlichen Erfahrung. Entsprechend der Art der Darstellung wird allgemein unterschieden zwischen referierender oder literarisch-narrativer Historiografie, welche das Geschehene in chronologischer Reihenfolge erzählt, zwischen pragmatischer oder lehrhafter Historiografie, die das Geschehene nach Ursache und Wirkung erfassen und daraus eine Nutzanwendung oder Lehre für die Zukunft ziehen will, sowie wissenschaftlicher Historiografie, welche auf der Basis der Quellen geschichtliche Ereignisse oder Prozesse kritisch zu verstehen und möglichst objektiv darzustellen sucht. Nachstehend sind die Entwicklungsschritte der liechtensteinischen Historiografie und ihrer Voraussetzungen skizziert.
Die Historiografie nimmt in der Antike mit den Griechen Herodot (um 485–425 v.Chr.) und Thukydides (um 460–400 v.Chr.) Gestalt an, im altrömischen Bereich mit Sallust (86–34 v.Chr.), Livius (59 v.Chr.–17 n.Chr.) und Tacitus (um 55–120). Die mittelalterliche Historiografie berichtete in Annalen (nach Jahren geordnete Fakten), Chroniken (Ereignisse in chronologischer Abfolge), Historien (Ereigniserzählungen) und Viten (Lebensbeschreibungen) über Geschichtliches. Die Historiografie befasste sich in einem breiten thematischen Spektrum mit Ereignissen, Vorkommnissen, mit der Weltgeschichte, der Entwicklung der Menschheit, dem Werden eines Volkes, der Entstehung eines Reiches oder Staates, mit Kirchen und Klöstern oder auch mit dem Leben von Persönlichkeiten. In die bedeutenden Werke der profanen Reichsgeschichte und in die Weltchroniken war auch das Gebiet des Alpenraums einbezogen.
Im Mittelalter waren Klöster Zentren der Historiografie auch im alemannischen Raum. In der Ostschweiz und im Rheintal gilt das v.a. für die Klöster am Bodensee, in denen man Viten, Klostergeschichten und Annalen verfasste. In karolingischer Zeit entstanden Viten lokaler Heiligen wie etwa die um 800 geschaffene Vita des hl. Luzius, des rätischen Landespatrons. Im 14./15. Jahrhundert entstand v.a. in Städten eine ganze Reihe von Chroniken, die den Rang und den Anspruch der betreffenden Stadt historisch begründen, legitimieren und an die ruhmvolle Vergangenheit erinnern sollten.
Das Rheintal, die Grafschaft Vaduz und die Herrschaft Schellenberg erscheinen v.a. in den Chroniken, welche die kriegerischen Auseinandersetzungen der Eidgenossen im Alten Zürichkrieg (1436–50) und im Schwabenkrieg (1499) thematisieren, wie auch in Bündner Chroniken und Schriftwerken des 17. Jahrhunderts, welche die Bündner Wirren beschreiben, von denen auch das Gebiet des heutigen Fürstentums Liechtenstein betroffen war. Im Vorarlberger Raum, in Hohenems, publizierte 1616 Bartholomäus Schnell die von Johann Georg Schleh von Rottweil verfasste Emser Chronik. Sie war nicht nur ein Meisterwerk der Buchdruckerkunst, sondern markiert den Beginn der Vorarlberger Historiografie, die auch das Gebiet des heutigen Fürstentums Liechtenstein umfasste, das damals unter der Herrschaft von Graf Kaspar von Hohenems stand. Auch andere Vorarlberger Chroniken, wie jene von Thomas Lirer (1485) oder die Feldkircher-Chronik von Johann Georg Prugger (1685), sind für Liechtenstein relevant. Chronikalischen Charakter haben zudem die später publizierten Aufzeichnungen der Liechtensteiner Johann Georg Helbert (1813) und Josef Seli (1912).
Im 19. Jahrhundert begann sich die Geschichte zu einer empirischen Wissenschaft zu entwickeln, durch Quellenarbeit suchte man eine objektive Darstellung zu erreichen. Die philologisch-historische Methode (Quellenedition) setzte sich durch und wurde Basis der Geschichtsforschung. Die Historiografie war eng verbunden mit den politischen Tendenzen der Zeit. Das wird deutlich im 1847 publizierten Werk «Geschichte des Fürstenthums Liechtenstein» von Peter Kaiser, das die liechtensteinische Historiografie begründete. Der Liechtensteiner Peter Kaiser lebte in Graubünden in der Schweiz, unterrichtete an den Gymnasien Disentis und Chur und amtierte später als Präsident der Geschichtsforschenden Gesellschaft Graubündens. Mit seinem aus den Quellen erarbeiteten und in der Tradition der liberalen Historiografie stehenden Werk über die Geschichte Liechtensteins nahm Kaiser eine wichtige Rolle ein «für die Stiftung einer liechtensteinischen Identität» (V. Press). Es ist das erste historische Werk über das Fürstentum Liechtenstein.
In Liechtenstein mangelte es bis weit in das 20. Jahrhundert hinein an Voraussetzungen für eine wissenschaftlich orientierte Historiografie, weil entsprechende Institutionen wie Universitäten, Akademien und Gymnasien fehlten und Arbeitsmöglichkeiten für akademisch geschulte Historiker nicht vorhanden waren. Auch Hilfsmittel standen kaum zur Verfügung. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden in Vaduz (1861), Triesen (1871) und Triesenberg (1912) Lesevereine, die bis in die 1930er-Jahre existierten und einen gewissen Zugang auch zu historischen Schriften ermöglichten.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienen – neben den im Liechtensteiner Volksblatt sporadisch erscheinenden historischen Reminiszenzen – vereinzelt für die liechtensteinische Geschichtskenntnis wichtige historische und landeskundliche Werke, so 1879 Hippolyt von Klenzes «Die Alpwirthschaft im Fürstenthume Liechtenstein», 1882 von Johann Franz Fetz ein «Leitfaden zur Geschichte des Fürstenthums Liechtenstein» und 1894 die Schrift «Geschichte des Gebietes des heutigen Fürstentums Liechtenstein, für Schule und Haus» von Johann Baptist Büchel. Wichtig für die liechtensteinische Historiografie waren auch Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts in den an Liechtenstein angrenzenden Gebieten, in St. Gallen, Graubünden und Vorarlberg, deren Quelleneditionen und Studien immer wieder auch das Land Liechtenstein und die Landesherrschaft betrafen.
Mit der Gründung des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein im Jahr 1901 erfolgte ein entscheidender Schritt. Der Verein initiierte und förderte in den folgenden Jahrzehnten eine Vielzahl geschichtlicher und landeskundlicher Arbeiten, die er in seinem seit 1902 jährlich publizierten «Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein» veröffentlichte. Der Verein stand von Anfang an mit anderen historischen Vereinen und wissenschaftlichen Institutionen des Auslands im Austausch. Die im Jahrbuch erschienenen Quellen, Studien und Aufsätze zeigten die liechtensteinische Eigenart und Geschichte und trugen zur Ausbildung eines eigenständigen historischen Profils des Landes bei. 1910 erschien im Jahrbuch die von Hanns Bohatta geschaffene Bibliografie liechtensteinischen Schrifttums.
Für die liechtensteinische Historiografie wichtig war auch die Bibliothek des Historischen Vereins, in der v.a. Veröffentlichungen zur liechtensteinischen Geschichte sowie allgemeine historische Fachliteratur und Fachzeitschriften zur Verfügung stehen. Zu erwähnen ist auch die 1906 gegründete Landes-Lehrer-Bibliothek, die bis 1961 Lehrpersonen für Liechtenstein relevante Zeitschriften und Fachliteratur auch historischer Thematik zugänglich machte.
Nachdem 1956 anlässlich der Feierlichkeiten zur 150-jährigen Souveränität Liechtensteins (1806–1956) das Fehlen einer zentralen Sammel- und Dokumentationsstelle für landeskundliches und historisches Schrifttum deutlich geworden war, kam es über private Initiative 1961 zur Gründung der Liechtensteinischen Landesbibliothek. Sie startete 1974 eine bis ins Jahr 1960 zurückreichende liechtensteinische Bibliografie, ein für die Historiografie des Landes wichtiges Instrument. Im gleichen Jahr wie die Landesbibliothek wurde auch das Landesarchiv (→ Archive) als eigenständige Institution geschaffen. Bis 2001 fungierte der Landesbibliothekar gleichzeitig als Landesarchivar.
Die Planungen zur Veröffentlichung von Quellen als der Grundlage der Historiografie nahmen zu. Im Jahrbuch wurden zahlreiche Quellen ganz oder in Regestenform publiziert. Nach einer entsprechenden Anregung von Wilhelm Beck 1934 im Landtag entstand das «Liechtensteinische Urkundenbuch», das zu einem wichtigen Mittel der liechtensteinischen Historiografie wurde. Das Landesarchiv machte zahlreiche Quellen zugänglich und edierte 2011 zentrale Dokumente zur liechtensteinischen Geschichte zwischen 1920 und 1950.
Erst nach der Mitte des 20. Jahrhunderts machte die Professionalisierung der Geschichtsforschung in Liechtenstein Fortschritte. Seit den 1950er- und v.a. 60er-Jahren, als sich auch in Liechtenstein entsprechende berufliche Möglichkeiten etwa am Liechtensteinischen Gymnasium zu eröffnen begannen, wurde das Studium der Geschichte für liechtensteinische Studenten attraktiver. Erste Dissertationen befassten sich mit Themen aus der liechtensteinischen Geschichte (Georg Malin, 1953; Rupert Quaderer, 1969; Peter Geiger, 1969; Alois Ospelt, 1972), welche entsprechend ihrer breit angelegten Thematik v.a. die politische Geschichte Liechtensteins von 1800–66 und die liechtensteinische Wirtschaftsgeschichte im 19. Jahrhundert darstellen. Später entstand eine ganze Reihe substanzieller, v.a. im Jahrbuch des Historischen Vereins publizierter Lizentiats-, Magister- und Masterarbeiten. Sie eröffneten z.T. auch Zugänge zu neuen Themen, wie etwa zur bis dahin kaum beachteten Frauen- und Geschlechtergeschichte. Historiografische Lücken in diesem Zusammenhang konnten mit der Schaffung des Buchs «Inventur: Zur Situation der Frauen in Liechtenstein» angesprochen werden. Verschiedene neue Aspekte der Gesellschafts-, Wirtschafts-, Sozial-, Mentalitäts-, Alltags- und Kulturgeschichte fanden Eingang in ein 1990 erschienenes Text- und Arbeitsbuch zur liechtensteinischen Geschichte des 17.–19. Jahrhunderts, «Brücken zur Vergangenheit», und für das 20. Jahrhundert in ein 2012 publiziertes Nachfolgewerk «Wege in die Gegenwart». Das 1981 von Wolfgang Müller, dem kirchlichen Landeskundler und Leiter des alemannischen Instituts in Freiburg, herausgegebene landeskundliche Porträt «Das Fürstentum Liechtenstein» wie die von Franz Näscher erarbeiteten, 2009 in drei Bänden publizierten «Beiträge zur Kirchengeschichte Liechtensteins» erweitern die Kenntnis der Liechtensteiner Geschichte in wichtigen Bereichen.
Um der liechtensteinischen Historiografie zusätzlichen Schub zu geben, wurden die Kontakte zu ausländischen Universitäten intensiviert und mit diesen gemeinsame Projekte zu liechtensteinischen Themen realisiert. Ein früheres Beispiel gab das Seminar «Liechtenstein – Fürstliches Haus und staatliche Ordnung» (1984) an der Universität Tübingen unter der Leitung von Volker Press und Dietmar Willoweit. Das «Historische Lexikon des Fürstentums Liechtenstein» initiierte zur Aufarbeitung noch unbearbeiteter Bereiche der liechtensteinischen mittelalterlichen und neuzeitlichen Geschichte wie der Zeitgeschichte Liechtensteins Seminare in Zusammenarbeit mit den Historischen Instituten der Universitäten Zürich (Roger Sablonier), Salzburg (Heinz Dopsch), Innsbruck (Brigitte Mazohl) und Freiburg i.Üe. (Urs Altermatt) und veröffentlichte die wissenschaftlichen Erträge in der Publikation «Bausteine zur liechtensteinischen Geschichte» (1999). Auch organisierte es 1995 und 1998 eine Liechtensteinische Historische Tagung zum Thema «Historiographie im Fürstentum Liechtenstein» und zur Revolution von 1848 sowie ebenfalls im Jahr 1998 eine Tagung zum Thema der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Im Zug all dieser Projekte erweiterten sich auch die Publikationsforen. Neben den Verlagen des Historischen Vereins und der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft wurde der Zürcher Chronos Verlag eine wichtige Plattform für liechtensteinische historische Themen.
Auch institutionell wurde die Historiografie in Liechtenstein gefördert. Das Liechtenstein-Institut gab Forschungsaufträge zu historischen Themen in Auftrag, wie etwa die Bearbeitung der liechtensteinischen Geschichte von 1928–45, und publiziert die entstandenen Studien. Das Landesarchiv gibt seit 2001 eine eigene Schriftenreihe heraus. Diese Publikation erfolgte auf Empfehlung der 2001 eingesetzten «Unabhängigen Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Weltkrieg», welche die Erträge der Forschungen 2005 in sechs Bänden und in einem Schlussbericht vorlegte. Der Historische Verein für das Fürstentum Liechtenstein war Träger verschiedener vom Staat finanzierter historischer Forschungsprojekte, wie z.B. des «Liechtensteiner Namenbuchs», der Kunstdenkmäler Liechtensteins und der Geschichte der Einbürgerungen in Liechtenstein von 1809 bis 2008. Das heutige, 1972 gegründete Liechtensteinische Landesmuseum publizierte zu seinen historischen Ausstellungen Kataloge, welche bildorientierte, textlich untermauerte Zugänge zur liechtensteinischen Geschichte eröffnen.
Auch auf privater wie auf Gemeinde-, Verbands- und Vereinsebene wurde eine grosse Anzahl von historischen Schriften publiziert, die zwar nicht immer wissenschaftlichen Anspruch erheben, aber trotzdem eine Fülle von Kenntnissen beinhalten, welche der liechtensteinischen Historiografie förderlich sind.
Auch wenn die Historiografie in Liechtenstein sehr viel erreicht hat, steht seit dem Erscheinen des Werks von Peter Kaiser 1847 trotz des grossen Interesses an der Geschichte des Landes eine umfassende Gesamtdarstellung der Geschichte des Gebiets des Fürstentums Liechtenstein noch aus.
Literatur
- Eine Begegnung der besonderen Art. Liechtenstein wie es geschrieben steht: eine Auslese, Auswahl: Marc Ospelt, hg. von der Liechtensteinischen Landesbibliothek, Vaduz 2001.
- Arthur Brunhart: Peter Kaiser (1793–1864). Erzieher, Staatsbürger, Geschichtsschreiber. Facetten einer Persönlichkeit, Vaduz 21999.
- Arthur Brunhart (Hg.): Historiographie im Fürstentum Liechtenstein. Grundlagen und Stand der Forschung im Überblick, Zürich 1996.
- Christian Simon: Historiographie. Eine Einführung, Stuttgart 1996.
- Achatz von Müller et al.: Geschichtsschreibung, in: Geschichte. Lexikon der wissenschaftlichen Grundbegriffe, hg. von Manfred Asendorf et al., Reinbek bei Hamburg 1994.
- Geschichtsforschung in der Schweiz – Bilanz und Perspektiven 1991, hg. von der Allgemeinen Geschichtsforschenden Gesellschaft der Schweiz, Redaktion der Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte, Boris Schneider, Francis Python, Basel 1992.
- Pietro Rossi (Hg.): Theorie der modernen Geschichtsschreibung, Frankfurt 1987.
- Eduard Fueter: Geschichte der neueren Historiographie, 3. Auflage, Zürich 1985.
- Formen der Geschichtsschreibung, hg. von Reinhard Koselleck, Heinrich Lutz, Jörn Rüsen, München 1982.
- Richard Feller, Edgar Bonjour: Geschichtsschreibung der Schweiz. Vom Spätmittelalter zur Neuzeit, 2 Bände, Basel 1979.
- Liechtenstein Politische Schriften, Bd. 1 (1972)–.
- Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 1 (1901)–.
Zitierweise
<<Autor>>, «Historiografie», Stand: 31.12.2011, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), URL: <<URL>>, abgerufen am 16.2.2025.
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