
Hungersnöte
Autorin: Sabine Veits-Falk | Stand: 31.12.2011
Besitzarme Bevölkerungsteile waren bis ins 19. Jahrhundert von chronischem Hunger betroffen; die Sicherung der Nahrung galt ihnen als zentrales Lebensprinzip (→ Ernährung). Demgegenüber griffen Hungersnöte als kurzfristige, von einem Grossteil der Bevölkerung drastisch erlebte Situationen des Mangels an Grundnahrungsmitteln (Hans Medick) bis Mitte 19. Jahrhundert weitaus tiefer in das Leben der Hungernden ein. Sie wurden v.a. durch witterungsbedingte Missernten, Unwetterkatastrophen oder Kriege ausgelöst. Ernteausfall und Preissteigerungen für Lebensmittel, besonders für Getreide und Brot, riefen Versorgungskrisen hervor. Zu ihren klassischen Symptomen zählten Übersterblichkeit infolge Auszehrung des Körpers und spezifische Hungerkrankheiten (z.B. Ruhr, Typhus), Rückgang der Natalität und Migration.
Für Liechtenstein ist eine Hungersnot erstmals 1314 erwähnt. Besser belegt sind Hungersnöte seit dem 17. Jahrhundert, so im Rheinüberschwemmungsjahr 1627 und am Ende des Dreissigjährigen Kriegs. Während der europaweiten Hungersnot von 1770–72 überstieg in Liechtenstein die Zahl der Toten die der Neugeborenen um 200. 1796 folgte auf einen unfruchtbaren Sommer mit heftigen Stürmen und Unwettern ein rauer, nasser Winter, Schädlinge reduzierten die Ernteerträge um mehr als die Hälfte. Die Koalitionskriege stellten eine enorme Belastung für die Bevölkerung dar. Viele Arme trieb der Hunger zum Verzehr von Gras und Kräutern. Angesichts des drohenden Hungertods in Triesen und Balzers bemühte sich Landvogt Franz Xaver Menzinger 1805/06 um den Import von Feldfrüchten. Im mitteleuropäischen Hungerjahr 1816/17 verursachten Rheinüberschwemmungen, ein nasskalter Sommer und Schädlingsbefall auch in Liechtenstein eine schwere Missernte. Folgenreich erwies sich der Mangel an Mais und Kartoffeln; die Getreidepreise stiegen um das Vielfache. Die Bevölkerung soll sich mit Ersatzspeisen wie Gras, Brennnessel, Trester und gemahlenen Maiskolben beholfen haben; besonders Kinder und Alte starben an den Folgen des Hungers (1817/18 übertraf die Zahl der Todesfälle jene der Geburten um rund 150). Ab Frühjahr 1817 gelang Landvogt Josef Schuppler trotz der österreichischen Ausfuhrsperre die Einfuhr von Kartoffeln und Brotgetreide aus Österreich und der Lombardei. Die europaweite Krise von 1846/47 zählt zu den letzten grossen Hungersnöten «alten Typs» (Wilhelm Abel), die in der Regel nicht viel länger als einen Erntezyklus dauerten. In Liechtenstein traf sie wiederum mit einem Rheineinbruch zusammen und führte (wie schon 1816/17) zu einer Auswanderungswelle. Hunger gab es in Liechtenstein nochmals im Ersten Weltkrieg, im Lauf des 20. Jahrhunderts verschwand er als Alltagserfahrung breiter Bevölkerungsteile.
Quellen
- Chronik des Johann Georg Helbert aus Eschen, 2006.
Literatur
- Sabine Falk-Veits, Alfred Weiss: «Armselig sieht es aus, die not ist nicht zu beschreiben». Armut als soziales und wirtschaftliches Problem des 18. und 19. Jahrhunderts, dargestellt am Fallbeispiel Liechtenstein, in: Bausteine zur liechtensteinischen Geschichte. Studien und studentische Forschungsbeiträge, hg. von Arthur Brunhart, Bd. 2: Neuzeit: Land und Leute, Zürich 1999, S. 209–241, hier S. 216f.
- Paul Vogt: Brücken zur Vergangenheit. Ein Text- und Arbeitsbuch zur liechtensteinischen Geschichte. 17. bis 19. Jahrhundert, hg. vom Schulamt des Fürstentums Liechtenstein, Vaduz 1990.
- Gerhard Wanner: Aspekte zur Liechtensteiner Wirtschafts- und Sozialgeschichte um 1800, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 70 (1970), S- 459–500, hier S. 465–467.
- Albert Schädler: Das Hungerjahr 1817 in Liechtenstein, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 18 (1918), S. 9–25.
Zitierweise
Sabine Veits-Falk, «Hungersnöte», Stand: 31.12.2011, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), URL: https://historisches-lexikon.li/Hungersnöte, abgerufen am 21.3.2023.