
Leibeigenschaft
Autor: Bernd Marquardt | Stand: 31.12.2011
Leibeigenschaft, auch Eigenschaft, war einer der vielen spätmittelalterlichen-frühneuzeitlichen Rechtsbegriffe für den vollberechtigten Zugehörigenstatus zu einer ländlichen Kleinstgesellschaft des römisch-deutschen Reichs, die nach aussen von einem Herrn (Adliger, Kloster usw.) vertreten wurde, wobei dessen Status als Reichs- oder Landesunmittelbarer nicht relevant war. In einer Sozialordnung, die sich von den kleinsten Einheiten her definierte, stand er systematisch auf einer Ebene mit dem heutigen Terminus «Staatszugehörigkeit» und umschloss alle daraus resultierenden Rechte und Pflichten (→ Bürgerrecht). Das Sulzisch-Hohenemsische Urbar (1617/19) betonte, dass «ieder, der in diser Graffschaft hausheblich wohnt» – gemeint waren 337 Haushalte – «der Herrschaft Leibaigen» sei und dass daraus «die gemeindtsrecht» resultierten (→ Gemeinde). Synonym wurden «Einsäss» und «Untertan» benutzt. Teilweise werden in der Literatur die Steuerpflicht (→ Fasnachtshenne) und das generelle Auswanderungsverbot mit Ausnahmevorbehalt bei Nachsteuerleistung als Merkmal der (Leib-)Eigenschaft hervorgehoben, doch handelte es sich hierbei nur um die «negative» Seite der Vollzugehörigkeit, die nicht von der «positiven» Seite, etwa dem Stimmrecht bei der Gemeindeversammlung oder der Chance, in den Rat der Urteilsfinder kooptiert zu werden, trennbar war. «Frei» im Sinn von «freizügig» waren in ländlichen Herrschaften vor allem diejenigen, die nur minderberechtigt als «Beisassen» (→ Hintersassen) aufgenommen waren.
Ein davon zu unterscheidender zweiter Bedeutungsgehalt von Leibeigenschaft betraf die Zuordnung einer einzelnen Bauernstelle zur Versorgung eines herrschaftsexternen Klosters, ohne dass die Bauernstelle aus dem Rechtsverband ihrer angestammten Herrschaft ausgegliedert wurde; in diesem Fall galt die Bauernstelle als leibeigen beim Kloster.
Zu vertiefen ist das sich im Zeitablauf wandelnde sprachliche Verhältnis von «(leib)eigen» und «frei». Im Hochmittelalter wurden «Eigenmann» und «Freier» weitgehend synonym und gleichermassen positiv verwendet (→ Freie). Im Spätmittelalter setzte sich am Alpenrand «Eigenschaft» durch; «frei» waren vor allem die «freizügigen» Minderberechtigten. Im Verlauf der frühen Neuzeit begann dem zu «Leibeigenschaft» verlängerten Begriff jedoch so etwas wie der Makel eines negativen Vorzeichens anzuhaften. Die Aufklärung machte daraus schliesslich einen politischen Kampfbegriff gegen die lokal fokussierte Ordnung des Ancien Régime, der mit dem Bedeutungsgehalt von «Sklaverei» angereichert wurde. Aus diesem Grund beschloss die liechtensteinische Hofkanzlei 1808, die Leibeigenschaft abzuschaffen. Es war das Jahr, in dem auch die demokratischen Mitwirkungsrechte der Gerichtsgemeinde erloschen.
Quellen
- Liechtensteinisches Urkundenbuch, Teil I: Von den Anfängen bis zum Tod Bischof Hartmanns von Werdenberg-Sargans-Vaduz 1416, Bd. 4: Aus den Archiven des Fürstentums Liechtenstein, bearb. von Georg Malin, Vaduz 1963/1965 (LUB I/4), S. 344.
- Alois Ospelt: Wirtschaftsgeschichte des Fürstentums Liechtenstein im 19. Jahrhundert. Von den napoleonischen Kriegen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 72 (1972), Anhang, S. 71f.
Literatur
- Hans-Werner Goetz: Leibeigenschaft, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5 (1991), Sp. 1845–1847.
- Otto Seger: Die Leibeigenschaft und ihre Aufhebung, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 65 (1965), S. 145–152.
Zitierweise
<<Autor>>, «Leibeigenschaft», Stand: 31.12.2011, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), URL: <<URL>>, abgerufen am 15.2.2025.
Medien
ZUR VERTIEFUNG
Maria Franziska Hasler – Entlassung aus der Leibeigenschaft, 1720
