
Liechtenstein (Land)
Autoren: Donat Büchel, Peter Geiger, Ulrike Mayr, Anna Merz, Alois Niederstätter, Rupert Quaderer | Stand: 31.12.2011
Amtliche Bezeichnung: Fürstentum Liechtenstein; Hauptort: Vaduz. Liechtenstein umfasst auf einer Fläche von 160,475 km2 elf politische Gemeinden mit insgesamt 36 475 Einwohnern (2011). Liechtenstein grenzt im Osten an das österreichische Bundesland Vorarlberg, im Westen an den schweizerischen Kanton St. Gallen und im Süden an den schweizerischen Kanton Graubünden. Das heutige Oberland deckt sich mit der ehemaligen Grafschaft Vaduz, das Unterland mit der ehemaligen Herrschaft Schellenberg. Vaduz und Schellenberg wurden 1719 vereinigt und zu dem nach den Fürsten von Liechtenstein benannten «Reichsfürstentum Liechtenstein» erhoben (seit 1806 «Fürstentum Liechtenstein»).
Ur- und Frühgeschichte (bis 806 n.Chr.)
Liechtenstein liegt im Alpenrheintal an einer schon in prähistorischer Zeit wichtigen Nord-Süd-Verbindung über die Alpen nach Oberitalien. Da der Rhein in der versumpften und mit Moorgebieten durchzogenen Flussebene mäandrierte, wurden Wege und Siedlungen in erhöhter Lage am Fuss der über 2000 m hohen Berge oder auf den Inselbergen angelegt, zu denen im Norden der rund 7 km lange Eschnerberg und im Süden der Hügel Gutenberg gehören. Einzelne Siedlungen liegen an schwer zugänglichen Stellen, da die Schutzfunktion an vorderster Stelle stand.
Der Alpenraum vom Ende der letzten Eiszeit bis zum Beginn der Jungsteinzeit
Die zunehmende Erwärmung nach der letzten Eiszeit führte ab etwa 13 000 v.Chr. zu einer Rückkehr der Vegetation und einer erneuten Bewaldung (→ Flora). In den der letzten Eiszeit folgenden Kulturphasen der späten Altsteinzeit und der mittleren Steinzeit kehrte der Mensch nur sporadisch, vor allem zur Jagd, in den Alpenraum zurück. In Liechtenstein wurden bisher aus diesen Phasen keine Funde entdeckt.
Am Übergang zur Jungsteinzeit wurden die Menschen sesshaft und gaben die nomadisierende oder halbnomadisierende Lebensweise zugunsten von ganzjährig bewohnten Siedlungen auf. Zur Jagd kam die Haltung von Haustieren (Rind, Schaf, Ziege, Schwein) hinzu; das Sammeln von Pflanzen, Früchten, Beeren und Nüssen wurde ergänzt durch den Anbau von Kulturpflanzen (Gerste, Einkorn und Emmer sowie eine Nacktweizenart, Lein/Flachs, Schlafmohn, Erbse); es wurden keramische Gefässe gebrannt und geschliffene Beilklingen hergestellt.
Jungsteinzeitliche Kulturen in Liechtenstein (5. Jahrtausend v.Chr. bis Mitte des 3. Jahrtausends v.Chr.)
In Süddeutschland bauten die Träger der Bandkeramikkultur in der zweiten Hälfte des 6. Jahrtausends v.Chr. auf fruchtbaren Lössböden ihre Langhäuser. Aus der Bandkeramikkultur entwickelten sich während der mittleren Jungsteinzeit (5. Jahrtausend v.Chr.) die Regionalkulturen «Grossgartach», «Rössen» und «Epi-Rössen». Möglicherweise wegen einer wachsenden Bevölkerung siedelten sie auch auf weniger fruchtbaren Böden. In Liechtenstein wurden die am weitesten südlich gelegenen Funde dieser frühen jungsteinzeitlichen Regionalkulturen entdeckt: ein Steingerät auf dem Malanser (Grossgartach), ein Keramikgefäss auf Gutenberg (Rössen), Keramik im Bereich der Unteren Burg Schellenberg sowie Keramik und Steingeräte auf dem Borscht, wo eindeutig eine Siedlung nachgewiesen werden kann (Epi-Rössen).
In Liechtenstein vertreten sind auch die folgenden jungsteinzeitlichen Kulturen: «Lutzengüetle» (Ende des 5. Jahrtausends v.Chr.; nach dem gleichnamigen Fundort in Liechtenstein benannt), «Pfyn» (erste Hälfte des 4. Jahrtausends v.Chr.), «Horgen» (zweite Hälfte des 4. Jahrtausends v.Chr., Anfang des 3. Jahrtausends v.Chr.) und «Schnurkeramik» (Mitte des 3. Jahrtausends v.Chr.). Die Funde stammen aus Landsiedlungen in erhöhter Lage: Lutzengüetle, Lutzengüetlekopf, Borscht, Sägaweiher, Krüppel und Gutenberg. An Seen, Mooren und Flüssen Mitteleuropas existierten zur gleichen Zeit aus Holz erbaute Ufersiedlungen, die früher als Pfahlbauten bezeichnet wurden. Jungsteinzeitliche Bestattungen wurden in Liechtenstein bisher nicht gefunden. Im 4. Jahrtausend v.Chr. wurde während der Pfyner Kultur zum ersten Mal Kupfer aus dem Osten importiert und hier zu Prestigeobjekten verarbeitet; die beiden einzigen liechtensteinischen Kupferobjekte sind eine Ahle und ein kleines Kupferplättchen vom Lutzengüetle. Ältere Fundstücke aus importiertem Kupfer sind vom Bodensee-Gebiet bekannt. Geräte des täglichen Lebens wurden in der Jungsteinzeit aus Stein, Silex, Holz oder Knochen und Horn gefertigt, im Alpenraum auch aus Bergkristall; das Koch- und Vorratsgeschirr bestand aus Keramik und Holz; Gewebe wurden auf Webstühlen hergestellt.
Bronzezeit (2200–800 v.Chr.)
Die Bronzezeit ist gekennzeichnet durch die Verarbeitung von Bronze, einer Legierung aus Kupfer und Zinn. Während Zinn von weither importiert werden musste, sind vor allem aus dem Ostalpenraum grosse Kupferabbaugebiete bekannt. Kleinere Vorkommen sind auch in Graubünden nachgewiesen. Mit der Kupfergewinnung schritt die Besiedlung der Alpentäler voran, die durch ein im Vergleich zu heute wärmeres Klima mit einer höher gelegenen Baumgrenze begünstigt wurde. Den Aufenthalt von Menschen in den Hochgebirgsregionen bezeugen Höhenfunde, in Liechtenstein im Bereich zwischen 1000 und 1500 m ü.M.: Ein Randleistenbeil aus Bronze von Malbun-Stafel und eine Speerspitze vom Weg von der Alp Sücka nach Silum belegen, dass die Strecke über den Kulm ins Malbun schon während der Bronzezeit begangen wurde. Weitere Einzelstücke, die entweder verloren oder als Weihe- und Opfergaben absichtlich versenkt wurden, stammen aus den Rieden. Trotz der räumlichen Nähe zur inneralpinen Bronzezeitkultur in Graubünden orientierte sich das Gebiet Liechtensteins in der frühen und mittleren Bronzezeit am nördlichen Voralpenraum. Land- beziehungsweise Höhensiedlungen dieser Zeit liegen auf dem Eschnerberg: Schneller, Malanser, Borscht, Kirchhügel von Bendern und Auf Berg (Gemeinde Mauren). Fundstellen auf Hügelkuppen und Terrassen sind Sägaweiher, Kolera (Gemeinde Planken), das Nordrondell von Schloss Vaduz und Krüppel. Ausgrabungen in Graubünden zeigen, dass die Häuser aus Holz gebaut waren, zum Teil mit Steinsockel.
Während der frühen Bronzezeit (2200–1550 v.Chr.) wurden die Menschen in Flachgräbern beigesetzt. Ohne eindeutige Grabbeigaben gestaltet sich eine Datierung schwierig, so auch bei den beiden bisher bekannten liechtensteinischen Fundorten Unterm Weissen Stein, wo unter einem Felsvorsprung mindestens sechs menschliche Individuen lagen, und Hahnenspiel, wo man auf ca. 2000 m ü.M. in einer kleinen, schwer zugänglichen Höhle eine Hockerbestattung aufdeckte. Während der mittleren oder Hügelgräber-Bronzezeit (1550–1300 v.Chr.) wurden die Menschen in Grabhügeln, die zum Teil Gräberfelder bildeten, bestattet und erhielten Beigaben, die den sozialen Rang der Toten zeigen. So enthielt ein Männergrab aus der Au in Gamprin ein Schwert, einen Dolch, ein Beil und eine (Schmuck-)Nadel. Während der späten Bronzezeit oder Urnenfelderzeit (1300–800 v.Chr.) kam in ganz Mitteleuropa die Urnenbestattung auf. Im alpinen Raum bildete sich während dieser Zeit die Laugen-Melaun-Kultur (früher auch Melaunerkultur genannt) als Regionalkultur heraus, die in Südtirol und im Trentino ihren Ausgang nahm.
Da Liechtenstein an der Westgrenze der Laugen-Melaun-Kultur lag, mischten sich deren Elemente mit jenen der voralpinen Urnenfelderkultur, was vor allem in der Keramik sichtbar wird. Siedlungsstellen aus dieser Zeit sind Malanser, die Untere Burg Schellenberg, Lutzengüetle, der Kirchhügel von Bendern, Nendeln, Krüppel, Niggabündt und Galga-Meierhof in Triesen sowie Gutenberg. Weitere Fundstellen weisen nur Urnenfelderkeramik auf, wie eine kleine Siedlung auf dem Grat des Dachsecks. In dieser Zeit kann in Liechtenstein erstmals das Pferd als Haustier nachgewiesen werden. Urnenbestattungen, die ganz in der Tradition der Urnenfelderkultur angelegt wurden und kein einziges Laugen-Melaun-Element aufweisen, sind vom Runden Büchel in Vaduz und vom Runden Büchel in Balzers bekannt.
Eisenzeit (800–15 v.Chr.)
Die Eisenzeit ist durch die Verbreitung des Eisens als neuen Werkstoffs gekennzeichnet. Die ältere Eisenzeit (800–450 v.Chr.) wird nach einem reichen Gräberfeld in Oberösterreich Hallstattzeit genannt, die jüngere Eisenzeit (450–15 v.Chr.) nach einer Fundstelle im Neuenburger See La-Tène-Zeit. Liechtenstein lag mitten im Kulturkreis der Alpenrheintalgruppe, deren Verbreitungsgebiet vom Bündner Oberland bis nahezu an den Bodensee reichte. Von den beiden Phasen der Alpenrheintalgruppe entspricht die Stufe Tamins der älteren Eisenzeit, die Stufe Schneller der jüngeren Eisenzeit. Eine Reihe von Metallfunden, wie zum Beispiel modische Fibeln, deuten auf einen regen Handel mit dem Ost- und Südalpenraum hin; Zeugnis dafür ist unter anderem ein kleines Schmuckensemble, das unter einer Felswand in Gamprin entdeckt wurde. Ein bedeutender Fund ist der heute verschollene Helm aus Vaduz vom Negauer Typ, dessen Vorbild bei den Etruskern zu finden ist.
Die Stufe Schneller ist nach dem Fundort in der Gemeinde Eschen benannt, wo ein sogenannter Brandopferplatz entdeckt wurde. Dieser wies dicke Brandschichten auf, in denen man neben Keramik und Schmuck grosse Mengen von Tierknochen fand. Ein zweiter möglicher Brandopferplatz liegt auf Gutenberg. In dessen Nähe wurden die neun Gutenberger Votivstatuetten gefunden, die wohl mit einem Fruchtbarkeits- und Kriegskult in Zusammenhang stehen. Vom Runden Büchel in Balzers und von Gutenberg stammen die ältesten Fundmünzen Liechtensteins, zwei keltische Silbermünzen (→ Münzfunde). Bemerkenswert ist vor allem die Siedlung auf dem Borscht mit ihren Wällen, die vermutlich auf eine Fluchtburg hinweisen. Ein Hausgrundriss wurde auf dem Runden Büchel in Balzers entdeckt. Weitere Siedlungen waren Lutzengüetle, Krüppel, Malanser, Lutzengüetlekopf, Nendeln und Galga-Meierhof. Dank eines Gräberfelds am Fuss des Runden Büchels in Balzers ist das Totenbrauchtum bekannt: Die Toten wurden verbrannt, die Asche wurde im Innern einer Steinsetzung oder in einer einfachen Erdgrube deponiert, zusammen mit dem Schmuck, den Trachtbestandteilen sowie den Waffen und zwei bis drei Gefässen.
Römerzeit (15 v.Chr. bis zum Ende des 5. Jahrhunderts n.Chr.)
Mit der Eroberung des östlichen Alpenraums durch Tiberius und Drusus 15 v.Chr. begann in Liechtenstein die Römerzeit. Regionale Zentren waren Brigantium (Bregenz) und Curia (Chur), das in spätrömischer Zeit Bischofssitz und kirchliches Zentrum wurde. Die friedliche Zeit nach der Konsolidierung wurde Mitte des 3. Jahrhunderts n.Chr. durch das Eindringen germanischer Stämme von Norden her beendet. Viele Funde deuten darauf hin, dass Liechtenstein während der römischen Zeit dicht besiedelt war; sogar aus überschwemmungsgefährdeten Gebieten gibt es Siedlungsfunde. Von den typischen römischen Villen (Gutshöfen, villae rusticae) sind eine Badeanlage in Schaanwald, ein Herrenhaus mit Nebengebäuden in Nendeln sowie Gebäudeteile in Mauren, Eschen und Triesen erhalten. Eine möglicherweise grössere Siedlung (vicus) des 2.–4. Jahrhunderts n.Chr. befand sich in Balzers, wo die römische/n Strassen-/Raststation Magia vermutet wird. Ebenfalls in die römische Zeit fällt das früheste archäologische Zeugnis des Christentum (→ Christianisierung) in Liechtenstein, eine aus dem 5./6. Jahrhundert stammende Saalkirche in Schaan (→ Kapelle St. Peter).
Ab der Mitte des 3. Jahrhunderts n.Chr. überschritten vor allem die Alamannen immer wieder plündernd die vom Limes gesicherten Nordgrenzen des Römischen Reichs. Während dieser unruhigen Zeiten wurden die alten Siedlungen zumindest teilweise aufgegeben und vermehrt Rückzugsorte und Fluchtburgen aufgesucht, wie Krüppel, Lutzengüetlekopf oder Gutenberg. Ein wichtiges Element der Verteidigung bildeten Befestigungen wie das spätrömische Kastell von Schaan (→ römisches Kastell).
Im Lauf des 5. Jahrhunderts entglitt den Römern im Zug der Völkerwanderung die Kontrolle über die nördlich der Alpen gelegenen Provinzen. Ende des 5. Jahrhunderts verloren sie auch die Herrschaft über Italien, was das Ende des weströmischen Reichs bedeutete.
Anna Merz
Frühes Mittelalter (Ende des 5. Jahrhunderts bis 806)
Nach dem Ende des weströmischen Reichs war der Alpenraum Teil des Ostgotenreichs. Ab dem frühen 6. Jahrhundert kam er unter fränkische Herrschaft, wobei Churrätien bis 806 eine grosse Selbständigkeit bewahrte. Für das Gebiet Liechtensteins ist über die Zeit des Übergangs von der Spätantike zum Mittelalter nur wenig bekannt, da uns die schriftlichen wie auch die archäologischen Quellen weitgehend im Stich lassen. Die Region blieb jedoch weiterhin bewohnt.
Hinweise auf die romanische Bevölkerung geben zum Beispiel die beigabenlosen Gräber in Schaan und Balzers. Die dazugehörige Siedlung ist noch unentdeckt. Am Ende des 6. und während des 7. Jahrhunderts kam es zu einem Zuzug neuer Gruppen: der Alamannen. In Eschen liessen sie sich möglicherweise auf Schönabüel nieder, mit einem reich ausgestatteten Gräberfeld am daruntergelegenen Hang. In Schaan erfolgte die germanische Ansiedlung ebenfalls etwas ausserhalb des alten romanischen, im Bereich des ehemaligen Kastells gelegenen Dorfs. Im heutigen Ortsteil Specki befand sich das Gräberfeld, nicht weit davon entfernt lag wahrscheinlich die Siedlung. Das Gräberfeld auf dem Runden Büchel in Balzers zeigt den südlichsten Vorstoss der Alamannen ins Alpenrheintal an.
Für das frühe Mittelalter sind auch einige Gebäude nachweisbar: Noch aus römischer Zeit stammte die oben erwähnte Saalkirche in Schaan. In Bendern entstand im 6./7. Jahrhundert ein Profanbau, der wegen seiner Qualität und Grösse als herrschaftlicher Sitz der fränkischen Verwaltung angesprochen wird. Im 7./8. Jahrhundert wurde ein Teil des Gebäudes als Kirche umgestaltet und in den folgenden Jahrhunderten ausgebaut. Die profanen Bauteile wurden schliesslich vollständig aufgegeben. Aufgrund schriftlicher Aufzeichnungen ist die Existenz von Kirchengebäuden in der Mitte des 9. Jahrhunderts auch für Balzers und Eschen anzunehmen, aufgrund archäologischer Befunde ebenso in Mauren.
Ulrike Mayr
Von der Grafschaft Rätien bis zum Rheinbund (806–1806)
Die Entwicklung bis zum 13. Jahrhundert
Mit der Einrichtung einer Grafschaft in Rätien im Jahr 806 mussten die Bischöfe von Chur die weltliche Macht, die sie seit dem 6. Jahrhundert über dieses Gebiet innehatten, an Hunfrid, den ersten Grafen von Rätien, abtreten. Durch die engere Bindung Rätiens an das Fränkische Reich wurde die Germanisierung der romanischsprachigen Bevölkerung entscheidend vorangetrieben. Seit dem Vertrag von Verdun, mit dem die Karolinger 843 ihr Reich teilten, gehörte die Grafschaft Rätien zum Ostfränkischen Reich. Im Zusammenhang damit entstand das Churrätische Reichsgutsurbar, das als wichtigste regionale Quelle dieser Zeit auch die Verhältnisse in Liechtenstein berührt. Die Grafschaft war in «Ministerien» gegliedert, denen ein minister oder «Schultheiss» vorstand. Liechtenstein gehörte zum ministerium in planis, das sich über den Rhein nach Westen sowie weiter nach Süden erstreckte. Die Angehörigen der örtlichen Oberschicht, im Urbar als Lehensleute (→ Lehen) bezeichnet, trugen überwiegend germanische Namen. Bereits damals bestand eine über die Kriterien von Freiheit (→ Freie) beziehungsweise Unfreiheit hinaus deutlich differenzierte Feudalgesellschaft. In den Tallagen überwog der Getreidebau, es wurde aber auch Viehwirtschaft betrieben, die Bergregionen einbezog. In Schaan, Balzers und vermutlich Mäls bestanden karolingische Königshöfe mit grosszügigen Ausstattungen (z.B. Wiesland, Alpen, Weingärten und Mühlen). Nach dem Tod des Grafen Burchard (ab 917 Herzog von Schwaben) im Jahr 919 gelangte Rätien an die Grafen von Bregenz aus der mit den Karolingern verwandten Sippe der Udalrichinger. Rätien wurde seither zum Herzogtum Schwaben gerechnet, das seinerseits Teil des Ostfränkischen Reichs und ab 962 Teil des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation war. Kernraum der im 10. Jahrhundert entstandenen Grafschaft Unterrätien war die Gegend um das heutige Feldkirch (Vorarlberg) mit dem Gerichtsort Rankweil.
Um das Jahr 1150 erlosch mit Graf Rudolf der Bregenzer Zweig der Udalrichinger. Das Erbe wurde zwischen seinem Schwiegersohn, dem Pfalzgrafen Hugo von Tübingen (†1182), und seinem Neffen, Graf Rudolf von Pfullendorf, geteilt. Aber erst in langen Auseinandersetzungen konnte sich Hugo die Herrschaft über grosse Teile des Bregenzer Erbes, darunter die Grafschaft Unterrätien, sichern. Auf ihn folgte am Bodensee und im Alpenrheintal sein gleichnamiger Sohn, der vor 1208 bei Weiler (Vorarlberg) eine Burg errichtete, nach der er sich «von Montfort» nannte. Etwa zur selben Zeit gründete er die Stadt Feldkirch, die bis in die Moderne für Liechtenstein zentrale Funktionen, vor allem auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet, ausübt. Unter der Herrschaft Hugos I. wurde aus Unterrätien die Grafschaft Montfort. Bereits Hugos Söhne teilten das Erbe. Während sich Hugo II. wie der Vater «von Montfort» nannte, errichtete sein Bruder Rudolf einen eigenen Stammsitz bei Buchs, dem er den Namen «Werdenberg» gab. Rudolfs Nachfahren waren die Grafen von Werdenberg, die über das spätere Liechtenstein, das südliche Vorarlberg und das Sarganserland herrschten. Die Grafen von Montfort besassen dagegen weite Gebiete im Rheintal, im nördlichen Vorarlberg sowie nördlich des Bodensees.
Zu den Herrschaftsrechten (→ Herrschaft) der Grafen gehörten vor allem die Ausübung von Hochgerichts- und Vogteirechten, die Verfügung über an sie gebundene Dienstleute (Ministerialen) sowie Kirchenherrschaften (Eigenkirchen beziehungsweise Patronatsrechte). Gräfliche Grundherrschaften hingegen sind für das Hochmittelalter aufgrund der schlechten Überlieferungslage nur vereinzelt nachgewiesen (→ Grundherrschaft). Konkurrenten der Grafen waren geistliche Grundherren, vor allem Klöster wie St. Luzi in Chur, Churwalden oder Pfäfers, die unter anderem in Balzers, Bendern, Eschen, Gamprin, Mauren, Ruggell und Triesen begütert waren. Zur dominierenden Macht im Alpenrheintal, die den Spielraum der Grafen drastisch beschnitt, wurden seit dem 12. Jahrhundert die Staufer als Herzöge von Schwaben und als römisch-deutsche Könige beziehungsweise Kaiser.
Im nördlichen Teil des späteren Liechtenstein besassen die Herren von Schellenberg ein Herrschaftsgebiet, das sich über Ruggell und Gamprin den Eschnerberg entlang bis nach Bendern erstreckte, Mauren, Schaan und Eschen einschloss und Rechte an den Rheinfähren von Ruggell und Gamprin umfasste. Wohl als eine den römisch-deutschen Kaisern unterstehende Reichsburg entstand die Burg Gutenberg.
Die Verhältnisse im Spätmittelalter und an der Wende zur Neuzeit (14. und 15. Jahrhundert)
Der Zusammenbruch der staufischen Macht Mitte des 13. Jahrhunderts und die weiteren Erbteilungen der Montforter und Werdenberger – bereits in der Generation nach Rudolf I. in die Linien Werdenberg-Heiligenberg und Werdenberg-Sargans – führten zur Entstehung kleinräumiger Herrschaftsgebiete. Sie konnten sich, da die Zentralgewalt des Herzogs fehlte, zu selbständigen, reichsunmittelbaren Herrschaften entwickeln (→ Reichsunmittelbarkeit). Die Grafen von Werdenberg gründeten in ihrem Machtbereich die Städte Bludenz, Sargans und Werdenberg und errichteten mit niederadeligen Dienstleuten besetzte Burgen, darunter das 1322 erstmals erwähnte Schloss Vaduz. An der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert wurden Walser am Triesenberg angesiedelt. Am 3.5.1342 einigten sich die gräflichen Brüder Hartmann III. und Rudolf IV. von Werdenberg-Sargans über die Teilung ihrer gemeinsamen Güter: Hartmann erhielt die Burgen Vaduz, Blumenegg und Nüziders samt umfangreichen Hoheitsrechten und Zubehör zwischen den Flüssen Landquart und Rhein. Es waren noch keine räumlich geschlossenen Herrschaftsgebiete, sondern Einflusszonen, in denen die Grafen über Regalien, Gerichts- und Vogteirechte, Besitz an Grund und Boden und dergleichen in unterschiedlicher Dichte verfügten. Örtliche Vertreter der Herrschaft waren Amtleute aus dem niederen Adel. 1376 nannte sich Graf Heinrich V. «herr ze Vadutz», 1379 liess er sich von König Wenzel die Hochgerichtsbarkeit bestätigen, 1396 von ihm belehnen. Seither galt Vaduz als reichsunmittelbare Grafschaft. Einen Zuwachs brachte 1390 der Anfall von Besitzungen und Rechten, welche die Grafen von Montfort-Feldkirch am Eschnerberg besessen hatten. Heinrichs Bruder Hartmann IV., Bischof von Chur, der 1397 die Herrschaft erbte, verpfändete sie seinen Halbbrüdern, den Freiherren Ulrich Thüring und Wolfhart II. von Brandis. Nach seinem Tod 1416 ging die Herrschaft endgültig an diese über. Den Besitz der Herren von Schellenberg einschliesslich der beiden gleichnamigen Burgen hatten im frühen 14. Jahrhundert die Grafen von Werdenberg-Heiligenberg erworben. Dieser Komplex fiel in den 1430er Jahren gleichfalls an die Freiherren von Brandis, die ausserdem über die Herrschaft Blumenegg und von 1437 bis 1509 über die Herrschaft Maienfeld (→ Bündner Herrschaft) verfügten.
Einen politischen Wendepunkt brachte das Engagement der Habsburger im Raum zwischen Arlberg und Bodensee. Nachdem sie bereits 1309/14 die Burg Gutenberg an sich gebracht hatten, gewannen sie von der Mitte des 14. Jahrhunderts an besonders im nachmaligen Vorarlberg wichtige Positionen (1363 Neuburg, 1375/90 Feldkirch, 1451 die Südhälfte der Herrschaft Bregenz, 1453 Tannberg/Mittelberg, 1473 Sonnenberg, 1523 die Nordhälfte der Herrschaft Bregenz). Seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert weiteten die Eidgenossen, in latentem Gegensatz zu den Habsburgern stehend, ihren Einfluss ostwärts aus. Dazu traten im Süden die Drei Bünde (Gotteshausbund, Zehngerichtenbund, Grauer Bund). Kleine Herren wie die Grafen von Werdenberg und die Freiherren von Brandis gerieten in den Sog dieser Entwicklung, die bis zum Ende des Mittelalters für äusserst labile Verhältnisse sorgte und besonders von den Brandisern ein geschicktes politisches Taktieren erforderte: Einerseits standen sie in habsburgischen Diensten, vor allem als Vögte von Feldkirch, andererseits besassen sie das Bürgerrecht der eidgenössischen Stadt Bern. In den Konflikten des 15. Jahrhunderts bildeten ihre Herrschaften eine Art Pufferzone: 1405 wurden im Appenzellerkrieg die Schellenberger Burgen zerstört, im Alten Zürichkrieg verwüsteten und plünderten die Eidgenossen 1445 die Grafschaft Vaduz; Balzers wurde niedergebrannt. Im Thurgauer Krieg gerieten Vaduz und Schellenberg 1460 neuerlich in die Kriegszone, ebenso 1499 im Schwabenkrieg, der von Gutenberg seinen Ausgang nahm. In seinem weiteren Verlauf kam es zur Schlacht bei Triesen und zur Eroberung des Schlosses Vaduz durch die Eidgenossen. Erst mit dem Frieden von Basel vom 22.9.1499 waren die Interessenzonen Österreichs unter Einschluss der brandisischen Gebiete einerseits und der Eidgenossenschaft andererseits langfristig abgesteckt: Der Rhein wurde zur freilich durchlässigen Grenze.
Trotz der politischen Turbulenzen, denen die Herrschaften Vaduz und Schellenberg am Ende des Mittelalters ausgesetzt waren, waren die Freiherren von Brandis in ihren Bemühungen um Arrondierung und Stabilisierung durchaus erfolgreich. Dazu trug das Bestreben der Bevölkerung bei, sich in Gemeinden zu formieren. Aus kleinräumig organisierten Gruppierungen unterschiedlicher Zugehörigkeit entstanden die beiden verhältnismässig homogenen Untertanenverbände der Herrschaften Vaduz und Schellenberg. Im Verlauf dieser Entwicklung trat an die Stelle der Vertreter des niederen Dienstadels eine bäuerliche Oberschicht, der die Herrschaft im Zusammenwirken mit der wahlfähigen Bevölkerung das Gros der Amtsträger, besonders Landammänner und Richter, entnahm. Das Verhältnis zwischen der Herrschaft und den in Bereichen wie Gericht und Steuer über Selbstverwaltungsrechte verfügenden Landschaften wurde in zentralen Belangen vertraglich geregelt.
Von der Herrschaft der Grafen von Sulz bis zur Erhebung zum Reichsfürstentum (1510–1719)
Der Churer Dompropst Johannes von Brandis verkaufte 1510 Vaduz, Schellenberg und Blumenegg seinem Neffen, dem aus dem Klettgau stammenden Grafen Rudolf V. von Sulz. Unter der bis 1613 währenden Herrschaft der Grafen von Sulz trat in enger Anlehnung an die Habsburger eine weitere Konsolidierung der Verhältnisse ein. Eines der Kennzeichen dafür ist, dass die anlässlich des Bauernkriegs 1525 aufflackernden Unruhen auf dem Verhandlungsweg beigelegt werden konnten. Die Grafen von Sulz verhinderten auch ein Übergreifen der Reformation aus Bünden. Unter den Sulzern wurde das Landrecht der Herrschaften Vaduz und Schellenberg, der Landsbrauch, schriftlich festgelegt. Die Grafen von Sulz wirkten vor allem durch ihre Präsenz an den habsburgischen Höfen den österreichischen Absichten auf Einverleibung ihrer Herrschaftsgebiete entgegen.
Aufgrund einer prekären Finanzlage verkaufte 1613 Graf Rudolf VII. die Herrschaft Blumenegg an die Abtei Weingarten und Graf Karl Ludwig veräusserte Vaduz und Schellenberg an Graf Kaspar von Hohenems, seinen späteren Schwiegersohn. Dieser war als Inhaber der Grafschaft Hohenems, des Reichshofs Lustenau und der Vogteien Bludenz-Sonnenberg beziehungsweise Feldkirch bestrebt, seinen Machtbereich weiter auszubauen. Vaduz und Schellenberg zählten damals zusammen etwa 3000 Einwohner. Der Versuch Graf Kaspars, sein Herrschaftsgebiet während der Wirren des Dreissigjährigen Kriegs (1618–48) neutral zu halten, musste angesichts der engen Bindung an Österreich scheitern. Vaduz und Schellenberg hatten unter Truppendurchzügen und -einquartierungen schwer zu leiden. Unter Kaspars Nachkommen, von denen Franz Wilhelm I. (1628–1662) die Vaduzer Linie des Geschlechts begründete, geriet die Herrschaft der Grafen von Hohenems durch Probleme in der Verwaltung, aber auch durch Misswirtschaft und Willkür in eine schwere Krise. Exzessiv geführte Hexenprozesse führten zu einer tief greifenden Verunsicherung und destabilisierten die Verhältnisse zusätzlich (→ Hexenverfolgung). Graf Ferdinand Karl wurde 1684 abgesetzt und ausser Landes gebracht, der Fürstabt von Kempten, Rupert Freiherr von Bodman, übernahm als kaiserlicher Kommissär die Zwangsverwaltung der beiden Herrschaften (→ kaiserliche Administration). 1686 ging die Herrschaft auf Jakob Hannibal III. von Hohenems über, die Zwangsverwaltung wurde aufgehoben. An der Finanzkrise änderte sich freilich nichts, sodass der Verkauf von Gütern und Rechten notwendig wurde. Den Drei Bünden bot man die südlichen Gemeinden der Grafschaft Vaduz an. Weitere Interessenten waren der Fürstabt von St. Gallen, die Grafen Waldstein und die Fürsten Schwarzenberg. Auch ein Verkauf der Herrschaftsrechte an die Untertanen wurde erwogen. Am 18.1.1699 erwarb Fürst Johann Adam I. Andreas von Liechtenstein die Herrschaft Schellenberg, am 22.2.1712 die Grafschaft Vaduz, die sich seit 1692 wieder unter kaiserlicher Zwangsverwaltung befunden hatte. Allein die reichsunmittelbare Stellung, der die Fürsten von Liechtenstein ihren Aufstieg in den Reichsfürstenstand verdanken sollten, rechtfertigte den hohen Kaufpreis für die beiden nur bescheidene Erträge abwerfenden Herrschaften. Am 23.1.1719 vereinigte Kaiser Karl VI. die Grafschaft Vaduz und die Herrschaft Schellenberg zum Reichsfürstentum Liechtenstein.
Von der Erhebung zum Reichsfürstentum bis zum Rheinbund (1719–1806)
Dem Herrschaftswechsel folgte im Zeichen des Absolutismus rasch der Bruch mit dem alten Herkommen, der freilich auch einen Modernisierungsschub bedeutete: Mit der Dienstinstruktion von 1719 wurde die herkömmliche Gerichtsverfassung, die sogenannte Landammannverfassung, abgeschafft und das neue Fürstentum in sechs Ämter eingeteilt. Ausserdem erhöhte die fürstliche Verwaltung die Steuern und Abgaben. Mit der Kirche geriet sie wegen des Zehnten in Konflikt (→ Novalzehntstreit 1719–21). Es kam zu Auseinandersetzungen mit der durchaus selbstbewussten Bevölkerung, die in Gewalttätigkeiten zu eskalieren drohten. Beschwerden an den Kaiser wurden fast immer zugunsten der Obrigkeit entschieden. Die Streitigkeiten dauerten an, bis Fürst Josef Wenzel 1733 eine Kommission nach Liechtenstein entsandte, um einen Kompromiss mit den Untertanen auszuhandeln, der zwar die Landammannverfassung der Form nach wiederherstellte, die Stellung der Landesherrschaft aber massiv stärkte. Die Interessen der stets ausserhalb des Landes residierenden Fürsten – keiner von ihnen betrat vor 1842 den Boden Liechtensteins – nahm das Oberamt wahr, das aus dem Landvogt, dem Rentmeister und dem Landschreiber bestand. Die wegen der grossen Entfernung erschwerte Kommunikation mit der Herrschaft und ihren zentralen Organen, besonders der fürstlichen Hofkanzlei in Wien, eröffnete in beschränktem Rahmen Freiräume für ein eigenständiges politisches Handeln. Ende 18. Jahrhundert wurde Liechtenstein in die Koalitionskriege einbezogen, was zu schweren Belastungen durch Teuerung sowie zu Truppendurchzügen und -stationierungen führte. Eine weitere Folge war die Aufnahme Liechtensteins in den Rheinbund 1806, wodurch dessen Zugehörigkeit zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation ein Ende fand.
Alois Niederstätter
Von der Erlangung der Souveränität bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs (1806–1914)
Politik
Durch die Aufnahme in den Rheinbund erlangte Liechtenstein 1806 die Souveränität. Der Regierungsantritt Fürst Johanns I. (1760–1836) 1805 brachte politische und wirtschaftliche Reformen: Bodenreform (ab 1806), neue Steuerordnung (1807), Aufhebung der Leibeigenschaft (1808), Schaffung eines Grundbuchs (1809), Rezeption des österreichischen Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs (1812) mit Ausnahme des Erbrechts. 1808 erliess Johann I. Dienstinstruktionen. Diese schafften die Landammannverfassung endgültig ab, hoben die alten Gerichtsgemeinden auf und schufen die politischen Gemeinden. Das Oberamt (ab 1848 Regierungsamt, ab 1862 Regierung) übte die Regierungsgeschäfte im Auftrag des Fürsten aus. Das Volk lehnte die Reformen grösstenteils ab, was sich im Aufstand 1809 zeigte.
1815 wurde Liechtenstein am Wiener Kongress als souveräner Staat in den Deutschen Bund (1815–66) aufgenommen. Diese Mitgliedschaft prägte die innen- und aussenpolitische Entwicklung Liechtensteins stark. 1818 erliess Johann I. in Erfüllung des Art. 13 der Bundesakte eine landständische Verfassung. Diese vereinigte weiterhin alle Rechte der Staatsgewalt beim Fürsten. Den Landständen war lediglich gestattet, die fürstlichen Postulate gehorsam anzunehmen und Vorschläge zum allgemeinen Besten zu unterbreiten. Die in der Bevölkerung bestehende Unzufriedenheit führte zu den Unruhen 1831/32 mit erfolglosen Forderungen nach wirtschaftlichen und verwaltungsmässigen Änderungen und einer verbesserten Repräsentation des Volks. 1836 folgte Alois II. (1796–1858) seinem Vater als regierender Fürst.
In der in Liechtenstein unblutig verlaufenden Revolution 1848 forderte die Bevölkerung politische Veränderungen und wirtschaftliche Verbesserungen. Volksvertretungen wurden gewählt, Adressen mit Forderungen an den Fürsten gerichtet. Verfassungsentwürfe von Peter Kaiser und Franz Josef Oehri brachten die Wünsche nach politischer Mitbestimmung zum Ausdruck. Peter Kaiser und später Karl Schädler (1804–1872) nahmen als gewählte Vertreter Liechtensteins an der deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche teil. Am 20.5.1849 fanden die Wahlen zum Landrat, der ersten gesetzgebenden Volksvertretung in Liechtenstein, statt. Zugeständnisse des Fürsten führten zu den konstitutionellen Übergangsbestimmungen vom 7.9.1849, dem ersten liechtensteinischen konstitutionellen Verfassungsgesetz. Unter dem Druck der Entwicklung in Österreich hob Alois II. diese mit dem Reaktionserlass vom 20.7.1852 auf und setzte die absolutistische Verfassung von 1818 wieder in Kraft. Abgeschafft blieben die Fronen; die Bezüge der Feudallasten kamen nicht mehr der fürstlichen Rentkasse, sondern der Landeskasse zu. 1852 bekräftigte Alois II. die Abschaffung des Jagd- und Fischereiregals, die unentgeltliche Befreiung vom Mühlenzwang, von Fronen und vom Novalzehnten und verordnete die Ausarbeitung eines Zehntablösungsgesetzes.
Ab Mitte der 1850er Jahre kam es immer wieder zu Forderungen von Seiten des Volks nach politischen Reformen. 1858 trat Fürst Johann II. (1840–1929) die Nachfolge seines Vaters an. Am 26.9.1862 erliess er die bis 1921 bestehende konstitutionelle Verfassung, die zwischen seinen Vertretern und dem landständischen Verfassungsausschuss ausgehandelt worden war. Der Fürst vereinigte weiterhin alle Rechte der Staatsgewalt in seiner Person. Er ernannte in alleiniger Kompetenz die Regierung, die Richter und die Beamten, er hatte das Oberkommando über das Militär inne. Zudem besass er das absolute Vetorecht in der Gesetzgebung. Die Volksvertretung bestand aus dem 15-köpfigen Landtag. Drei Abgeordnete ernannte der Fürst, zwölf wählten die stimmberechtigten Bürger indirekt über Wahlmänner (→ Wahlsysteme). Der Landtag wirkte an der Gesetzgebung und Militäraushebung mit, bewilligte die Steuern und besass das Recht auf Anträge und Beschwerden in Bezug auf die Staatsverwaltung. Die Regierung, welche nur dem Fürsten verantwortlich war, setzte sich aus dem ausländischen Landesverweser und zwei liechtensteinischen Landräten zusammen. Die Rechtsprechung übte in 1. Instanz das Landgericht in Vaduz aus. Als Verwaltungsbeschwerdeinstanz und Appellationsgericht amtete die fürstliche Hofkanzlei in Wien. Dritte Gerichtsinstanz und oberster Gerichtshof war das Oberlandesgericht in Innsbruck.
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts stellte, zum Teil bedingt durch die verbesserte wirtschaftliche Situation, zum Teil infolge stärkerer Mitwirkung des Landtags in der Gesetzgebung ab 1862, eine Phase des kulturellen und politischen Aufbruchs dar. Es kam unter anderem zu Reformen in den Bereichen Schule (1858–60), Strafrecht (1859), Gemeinden (1864, Einführung der Gemeindeautonomie) und Steuern (1865). 1865–71 erfolgte die erste geometrische Vermessung des Landes, ab 1875 war die Verwendung der metrischen Masse gesetzlich vorgeschrieben. Nach der Auflösung des Deutschen Bunds infolge des Preussisch-Österreichischen Kriegs (1866) verfügte Johann II. auf Druck des Landtags 1868 die Abschaffung des Militärs. 1878 beschloss der Landtag aufgrund der Münzwirren die Schaffung zweier Wahlkreise.
Bis 1862 war der Fürst allein bestimmender Faktor der durch die Mitgliedschaft im Rheinbund und im Deutschen Bund sowie durch den Zoll- und Steuervertrag mit Österreich (1852) geprägten Aussenpolitik. 1911 schloss Liechtenstein mit Österreich das Übereinkommen über den Post-, Telegrafen- und Telefondienst. Fortan war die Herausgabe eigener liechtensteinischer Briefmarken möglich (→ Philatelie). Durch diese und weitere Verträge sowie durch die Verwurzelung des Fürstenhauses in der Donaumonarchie entstand ein sehr enges Verhältnis zu Österreich. Aufgrund des Zollvertrags mit Österreich galten für Liechtenstein mehrere Handels- und Viehseuchenübereinabkommen mit der Schweiz. Mit ihr hatte Liechtenstein bereits 1838 ein Freizügigkeitsabkommen abgeschlossen, 1866 folgte eine Übereinkunft über die gegenseitige Zulassung von Medizinalpersonal und 1874 ein Niederlassungsvertrag.
Bevölkerung und Siedlung
Die Wohnbevölkerung stieg vom Ende des 18. Jahrhunderts bis Mitte des 19. Jahrhunderts von ca. 4400 auf rund 7400 Einwohner. Für die nächsten 50 Jahre stagnierte die Bevölkerungszahl. Sie wuchs zwar bis 1880 auf 8095, fiel bis 1901 aber wieder auf 7531 Einwohner. Bis 1911 erhöhte sich die Zahl auf 8693 Einwohner. Die Ursachen für die stagnierende Bevölkerungsentwicklung sind unter anderem im politischen Ehekonsens von 1804 zu sehen, der die Heiraten einschränkte. Neben Hungersnöten (1817 und 1846) beeinflusste auch die Auswanderung nach Amerika (vor allem 1848–55, 1880–84 und 1905–14) die Bevölkerungsentwicklung. Ein Hausbauverbot (1806) sowie das Verbot der Güterzerstückelung (1806) sollten die Armut bekämpfen. Infolge der in den 1860er Jahren einsetzenden Industrialisierung stieg die Zahl der Ausländer von 223 Personen (2,7 % der Wohnbevölkerung) im Jahr 1852 auf 1346 (15,5 %) im Jahr 1911. Zugleich kamen erstmals in grösserer Zahl Evangelische ins katholische Liechtenstein (→ Evangelische Kirchen).
1837 und 1848 legten Verträge mit dem Kanton St. Gallen die Grundlage für die Rheinkorrektion (→ Wuhrsysteme). Mit dem Rheinwuhrgesetz von 1865 übernahm die Regierung die Oberaufsicht über die Rheinverbauungen, 1891 wurde die Rheinkorrektion Staatsaufgabe. 1834–65 erfolgten erste Entwässerungen der Talebene, um Acker- und Kulturland zu gewinnen.
Wirtschaft und Verkehr
Im 18. und 19. Jahrhundert kam es zur Verteilung von Gemeindeboden an die Bürger. Verbunden mit der Entwässerung der Rheintalebene führte dies zu einer Intensivierung der Landwirtschaft. Das offene Ackerland nahm von ca. 370 ha (um 1800) auf 1530 ha (um 1870) zu. Eine Verbesserung für die Landwirtschaft brachten das Zehntablösegesetz (1864), die Aufhebung aller noch vorhandenen Feudalabgaben und die Ablösung der Grundzinse ab 1859 (→ Bauernbefreiung). Grosse Anstrengungen wurden für die Verbesserung der Tierzucht und der Alpwirtschaft unternommen, unter anderem durch den 1885 gegründeten Landwirtschaftlichen Verein (→ Liechtensteiner Bauernverband).
Die Entwicklung des Handwerks und des Gewerbes stagnierte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Verdienst boten Rodverkehr und Gipsexport. Fehlende Arbeitsmöglichkeiten führten zu einer grossen Zahl saisonaler Auswanderer. Als Hausindustrie entwickelte sich spätestens um 1850 die Stickerei (→ Textilproduktion und -verarbeitung). Um 1910 gab es in Liechtenstein 186 Stickereimaschinen. Die liechtensteinische Wirtschaft war bis zum Abschluss des Zollvertrags mit Österreich 1852 (→ Zollwesen) auch durch Zollgrenzen stark eingeschränkt. Schweizer Textilfabrikanten gründeten ab 1861 Industriebetriebe in Liechtenstein, das seit 1852 Teil eines grossen Wirtschaftsgebiets war. Ab 1861 erfolgte ein wirtschaftlicher Aufschwung: Die Zahl der in den Textilfabriken beschäftigten Arbeiterinnen und Arbeiter stieg von 21 (1861) auf 677 (1912), davon 470 Frauen, und die Zahl der Gewerbebetriebe wuchs von rund 200 (1861) auf 704 (1913/15). Die Industrialisierung führte zur Einführung technischer Neuerungen wie der Stromproduktion (1883) und des Telefons (1886).
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedingte der zunehmende Postverkehr die Errichtung neuer Postämter (→ Post). 1869 wurde Vaduz an das österreichische Telegrafennetz angeschlossen. 1898 errichtete die k.k. Postverwaltung ein öffentliches Telefonnetz.
Infolge des wirtschaftlichen Aufschwungs wurden neue Strassen und Wege angelegt und bestehende Verbindungen verbessert. Vor allem die Erschliessung der Berggemeinden stellte einen bedeutenden Fortschritt dar und war für die Alpwirtschaft und den aufkommenden Tourismus förderlich. Rheinbrücken ersetzten ab 1868 den Fährbetrieb. Ab 1872 fuhr die Eisenbahn zwischen Feldkirch und Buchs durch Liechtenstein. Ab 1859 war die österreichische Währung (österreichische Gulden, ab 1901 österreichische Krone) in Liechtenstein gesetzliche Landeswährung (→ Geld). 1861 wurde mit der «Zins- und Credit-Landes-Anstalt im souverainen Fürstenthume Liechtenstein», der heutigen Liechtensteinischen Landesbank AG, die erste Bank gegründet.
Gesellschaft und Kultur
Nach der Einführung der Schulpflicht 1805 gewann die Schulbildung allmählich an Bedeutung. Die Leitung des Schulwesens oblag dem Oberamt beziehungsweise der Regierung. 1859 trat ein neues Schulgesetz in Kraft. 1858 wurde in Vaduz die erste Realschule eröffnet, 1906 folgte in Eschen die zweite. Eine darüber hinausgehende Schuldbildung mussten Liechtensteiner in Bildungsstätten im Ausland absolvieren. 1864 wurden Ortsschulräte geschaffen, in denen der jeweilige Pfarrer den Vorsitz hatte, 1869 folgte ein Landesschulrat. Das Armengesetz (1869) ermöglichte Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung Anspruch auf Unterstützung. Mehrere Gemeinden errichteten Armenhäuser. Die Weberei der Gebrüder Rosenthal gründete 1870 die erste Krankenversicherung. Ab 1886 waren alle Fabrikarbeiter gegen Krankheit und Unfall versichert. Die mit der Gewerbeordnung von 1910 eingeführten Arbeiterschutzbestimmungen wurden schon 1915 wieder abgeschwächt.
Die 1863 gegründete erste Zeitung, die «Liechtensteinische Landeszeitung», und die zahlreichen, nach der Einführung der Vereinsfreiheit (1862) im ganzen Land entstehenden Vereine (Musik- und Gesangvereine, Lesevereine, Schützen-, Turn- und Radfahrvereine) belebten das kulturell-gesellschaftliche Leben.
Die von bäuerlicher Tradition geprägte, sozial mehrheitlich homogene liechtensteinische Bevölkerung neigte konservativen, patriarchalischen Denkstrukturen zu, sozialkritisches Denken war ihr grösstenteils suspekt. Veränderungen in radikaler Form wurden abgelehnt, auch in aufrührerischen Zeiten. Ab 1913/14 begann sich eine Opposition zu formieren, womit der bisher ausgebliebene Prozess der Bildung von Parteien einsetzte.
Kirche
Im Sinn des Josephinismus sollte die Kirche Anfang 19. Jahrhundert dem Staat nutzbar gemacht werden (→ Kirche und Staat). Die staatliche Behörde schaffte zahlreiche Feiertage ab und verbot Wallfahrten und Prozessionen. Religiöse Bruderschaften wurden aufgehoben, und ihr Vermögen wurde für wohltätige Zwecke verwendet. Die Geistlichen durften ohne staatliche Bewilligung keine Trauung vornehmen (politischer Ehekonsens 1804). Die Kirche sollte die Anordnungen des Staats verkünden und den Untertanen ihre staatlichen Pflichten erklären. Art. 12 der landständischen Verfassung (1818) hob die Steuerfreiheit der Kirche auf. Aus den Bestrebungen des Staats, die Kompetenzen der Kirche zu beschneiden, ergaben sich verschiedentlich Kompetenzstreitigkeiten (Taufe von Vagantenkindern, weltliche Genehmigung von Eheschliessungen, Anerkennung von im Ausland geschlossenen Ehen, Ehescheidung). 1808 wurde Liechtenstein ein Bischöfliches Landesvikariat, und die liechtensteinischen Pfarreien bildeten ein eigenes Kapitel. Zur formellen Konstituierung des Liechtensteinischen Priesterkapitels kam es aber erst 1850. 1873 entstanden die Pfarreien Vaduz und Ruggell, 1883 entstand die Pfarrei Schellenberg.
Rupert Quaderer
Vom Ersten Weltkrieg bis zum Sparkassaskandal (1914–28)
Der Erste Weltkrieg (1914–18) löste in Liechtenstein – begleitet von teilweise heftigen Auseinandersetzungen – grundlegende innen- und aussenpolitische Veränderungen aus. 1921 trat eine neue, demokratischere Verfassung in Kraft und 1923 wurde ein Zollanschlussvertrag mit der Schweiz abgeschlossen.
Innenpolitik
Im Ersten Weltkrieg, an dem Liechtenstein nicht beteiligt war, und zu Beginn der Nachkriegszeit kam es zu Versorgungsproblemen und es drohte der Staatsbankrott, zudem herrschte Arbeitslosigkeit. Im Herbst 1918 forderte die Spanische Grippe Opfer in der Bevölkerung. Die wirtschaftliche Krise zog innenpolitische Spannungen nach sich. Seit 1914 erschien mit den «Oberrheinischen Nachrichten» (ON) erstmals eine zweite Zeitung in Liechtenstein. Die ON wurden das Sprachrohr einer sich um Wilhelm Beck bildenden Opposition, die ab Herbst 1914 auch im Landtag vertreten war und auf politische, wirtschaftliche sowie soziale Reformen drängte. Im Januar 1918 verabschiedete der Landtag ein Gesetz zur Abänderung der Landtagswahlordnung. 12 der 15 Abgeordneten wurden neu direkt von den wahlberechtigten Männern gewählt. Auf die Landtagswahlen vom März 1918 hin gründete die Gruppe um Wilhelm Beck die erste liechtensteinische Partei, die Christlich-soziale Volkspartei (VP), und als Reaktion darauf formierten sich ihre Gegner im Dezember 1918 in der Fortschrittlichen Bürgerpartei (FBP). Parteiblatt der VP waren die ON (ab 1924 «Liechtensteiner Nachrichten»), Parteiorgan der FBP war das «Liechtensteiner Volksblatt». Es setzte ein Parteienstreit ein, der die ganze Zwischenkriegszeit prägte. Die Forderungen der VP zielten auf verfassungsrechtliche Reformen mit verstärkten Mitspracherechten des Volks nach schweizerischem Vorbild (Initiativ- und Referendumsrecht), einer «Nationalisierung» der Regierung mit einem Liechtensteiner als Regierungschef und der Einführung eines Staatsgerichtshofs. Ebenfalls sollten alle Gerichte ihren Sitz in Liechtenstein haben.
Im Novemberputsch 1918 erzwang eine Oppositionsgruppe den Rücktritt des seit 1914 amtierenden Landesverwesers Leopold von Imhof. Während rund einem Monat übernahm ein provisorischer Vollzugsausschuss unter der Führung von Martin Ritter die Regierungsgeschäfte. Im Dezember 1918 ernannte Fürst Johann II. seinen Neffen Karl von Liechtenstein (1878–1955) zum Landesverweser. Der Landtag handelte mit Prinz Karl ein 9-Punkte-Programm aus, das wesentliche Punkte der Verfassungsreform vorwegnahm. Auf Prinz Karl folgte im September 1920 der Österreicher Josef Peer. Die VP erhob energischen Widerspruch gegen die Ernennung eines Ausländers zum Landesverweser. In den Schlossabmachungen vom September 1920 einigten sich die VP und fürstliche Vertreter auf eine Begrenzung von Peers Amtszeit auf sechs Monate sowie auf die Grundsätze einer Verfassungsreform. Dabei fanden im Wesentlichen die Forderungen der VP Berücksichtigung. Am 24.8.1921 verabschiedete der Landtag einstimmig die neue Verfassung, die am 5.10.1921 durch Prinz Karl in Vertretung des Fürsten sanktioniert und von Peers Nachfolger, Josef Ospelt, gegengezeichnet wurde. Neu war die Staatsgewalt im Fürsten und im Volk verankert. Die Macht des Fürsten wurde zugunsten der Volksrechte eingeschränkt, er behielt aber bedeutende Kompetenzen, so das absolute Vetorecht bei Gesetzen und das Notverordnungsrecht. Zudem genoss er weiterhin absolute Immunität und konnte den Landtag auflösen. Die Ernennung der nur noch aus Liechtensteinern bestehenden Regierung erfolgte durch den Fürsten auf Vorschlag des Landtags; sie war dem Fürsten und neu auch dem Landtag verantwortlich. Zudem wurden alle 15 Landtagsabgeordneten fortan vom Volk gewählt, direktdemokratische Rechte nach schweizerischem Vorbild (Initiative und Referendum) eingeführt; der Sitz sämtlicher Gerichte wurde nach Liechtenstein verlegt und das Gerichtswesen ausgebaut.
Josef Ospelt (FBP) war der erste nach der neuen Verfassung bestellte Regierungschef. Die Landtagswahlen 1922 brachten der Volkspartei eine Zweidrittelmehrheit. Ospelt demissionierte, sein Nachfolger wurde im Juni 1922 Gustav Schädler (VP). Die wichtigsten Aufgaben der neuen Regierung bestanden darin, die Staatsfinanzen zu sanieren und die Gesetzgebung zu reformieren. Bedeutende gesetzliche Neuerungen betrafen unter anderem die allgemeine Landesverwaltungspflege, die Volksrechte, das Sachenrecht (alle 1922), das Steuerrecht (1923), die Schaffung des Staatsgerichtshofs (1925), das Personen- und Gesellschaftsrecht (PGR) (1926) sowie das Treuunternehmen (1928). Die Landtagswahlen vom Januar 1926 brachten der Volkspartei zwar Verluste, sie konnte aber die Mandatsmehrheit verteidigen (9 VP, 6 FBP). Da der von der FBP portierte Regierungsratskandidat von der VP abgelehnt wurde, kam es 1926 zu einer krisenhaften Situation und zur Landtagsauflösung. Neuwahlen im April 1926 brachten keine Veränderung der Landtagsmandate, die beiden Parteien konnten sich schliesslich im September 1926 einigen.
Aussenpolitik
Die enge Anlehnung an Österreich-Ungarn, das 1918 in verschiedene Staaten zerbrach, brachte Liechtenstein während des Ersten Weltkriegs bezüglich der Anerkennung seiner Neutralität und Souveränität in Schwierigkeiten. Die oppositionelle VP forderte nach dem Kriegsende eine Loslösung von Österreich und eine wirtschaftliche Hinwendung zur Schweiz. Eine Folge dieser Politik war die Kündigung des Zoll- und Steuervereins mit Österreich 1919. Mit der Schweiz konnte 1920 ein Postvertrag und 1923 gegen Widerstände in der Schweiz und zum Teil auch in Liechtenstein der Zollanschlussvertrag abgeschlossen werden. 1923 unterzeichneten Liechtenstein und die Schweiz ein Fremdenpolizeiabkommen, das Liechtensteinern den Zugang zum schweizerischen Arbeitsmarkt öffnete.
Ein zentrales Bestreben der Aussenpolitik Liechtensteins war eine eigenständigere diplomatische Präsenz. Dies erreichte das Fürstentum mit der Schaffung diplomatischer Vertretungen in Bern (1919) und Wien (1919, 1923 wieder geschlossen). In den Ländern, in denen Liechtenstein über keine eigene Auslandsvertretung verfügte, übernahm die Schweiz 1919 die diplomatische Vertretung. Der Versuch, durch den Beitritt zum Völkerbund eine völkerrechtliche Absicherung der Souveränität zu erreichen, scheiterte 1920. Aussenpolitisch waren vor allem die Beziehungen zur Tschechoslowakei belastet, da das Haus Liechtenstein durch die tschechoslowakische Bodenreform zwischen 1919 und 1938 rund 50 % seines Güterbesitzes verlor.
Wirtschaft
Die Textilindustrie musste während des Ersten Weltkriegs wegen Rohstoffmangel ihre Produktion einstellen. Erst Jahre nach dem Kriegsende erreichten die betreffenden Betriebe wieder die Vorkriegsbeschäftigung. Eine nach den Landtagswahlen von 1922 eingetretene politische und wirtschaftliche Aufbruchstimmung währte nur kurz, ein wirtschaftlicher Aufschwung fand in der Zwischenkriegszeit in Liechtenstein nicht statt. In den 1920er Jahren siedelte sich nur eine grössere Fabrik an, die «Eschenwerke». Dieses 1927 in Eschen eröffnete Unternehmen ging bereits 1928 in Konkurs, verbunden mit grossen Verlusten für die Gemeinde und das Land. Wie schon im 19. Jahrhundert waren viele Liechtensteiner als Saisonniers im Ausland tätig. Zudem kam es in den 1920er Jahren zu zahlreichen Fällen wirtschaftlich bedingter Auswanderung.
Eine Folge der desolaten wirtschaftlichen Lage war der vor allem am Ende und kurz nach dem Krieg grassierende Schmuggel. Ein zentrales Problem stellte die Inflation der Kronenwährung dar, die bis 1922 eine völlige Entwertung erfuhr. Der Staat geriet infolgedessen sowie aufgrund der erhöhten Staatsausgaben und rückläufigen -einnahmen während des Kriegs und in den Jahren danach in eine bedrohliche Finanzmisere, die er nur durch die Aufnahme von ausländischen Frankenanleihen und durch grosszügige Spenden des Fürsten bewältigen konnte. 1924 führte Liechtenstein einseitig die Frankenwährung ein.
Mit öffentlichen Arbeitsaufträgen wie Strassenbauten und Rüfeverbauungen versuchte der Staat die in der Kriegs- und Zwischenkriegszeit herrschende Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Hierfür setzte sich auch der 1920 gegründete Liechtensteinische Arbeiterverband (→ Liechtensteinischer ArbeitnehmerInnenverband) ein. 1920 erfolgte die Gründung der zweiten liechtensteinischen Bank, der «Bank in Liechtenstein AG». Zu bedeutenden Einkommenszweigen für Staat und Gemeinden entwickelten sich die Finanzeinbürgerungen sowie die durch das PGR geschaffene Möglichkeit, mit Angeboten von günstigen Steuerpauschalierungen Sitz- und Holdinggesellschaften ins Land zu bringen. Einnahmen und Arbeitsplätze versprach sich die Regierung auch von verschiedenen spekulativen Geschäften: Die Vergabe des Briefmarkenvertriebs an ein Konsortium 1919 (→ Briefmarkenaffäre) sowie die Mitte der 1920er Jahre erfolgten Konzessionierungen der Lotterien Klassenlotterie und Mutualclub erwiesen sich als problematisch. 1919 scheiterte ein privates Projekt zur Errichtung einer Spielbank. Ein wichtiger Schritt zur wirtschaftlichen Entwicklung Liechtensteins war der Bau des Lawenawerks (1925–26). Nach einer relativen wirtschaftlichen Erholungsphase kam es durch den Rheineinbruch 1927 (→ Überschwemmungen), der schlimmsten Naturkatastrophe in Liechtenstein im 20. Jahrhundert, und den Sparkassaskandal 1928 zu einem empfindlichen Rückschlag.
Gesellschaft und Kultur
Die im Ersten Weltkrieg stagnierende Bevölkerungszahl wuchs in den 1920er Jahren an. 1911 zählte Liechtenstein 8693 Einwohner, 1921 8841 und 1930 deren 9948. Die Zahl der Ausländer fiel während des Kriegs und erhöhte sich danach wieder. 1911 lebten 1346 (15,5 %) Ausländer in Liechtenstein, 1921 noch 996 (11,3 %) und 1930 wieder 1691 (17 %). Die grosse Mehrheit der Bevölkerung war von einem konservativen, monarchietreuen und kirchennahen Denken geprägt. Wohl kam es gegen Ende des Ersten Weltkriegs und 1919/20 zu einer gewissen gereizten Stimmung wegen der politischen und wirtschaftlichen Zustände, eine revolutionäre Veränderung der Staatsform war jedoch zu keinem Zeitpunkt Ziel einer Gruppierung oder Partei. Die katholische Kirche beeinflusste das öffentliche Leben stark. In vielen Bereichen unterstützten sich Staat und Kirche gegenseitig. Differenzen zum Staat ergaben sich in der Verfassungsdiskussion 1921. Der Bischof von Chur versuchte etwa, in der Frage der Erziehung und der Garantie des kirchlichen Grundbesitzes Einfluss zu nehmen.
Das Schulgesetz von 1929 brachte einige Neuerungen im Schulwesen, so wurden die Gemeinden verpflichtet, einen Kindergarten zu unterhalten.
Rupert Quaderer
Die Krisenzeit der Dreissigerjahre (1928–39)
Die Jahre von 1928 bis zum Kriegsausbruch 1939 waren für Liechtenstein eine Krisenzeit. Prägend waren wirtschaftliche Depression, Not, innenpolitische Unruhe, aussenpolitische Unsicherheit, nationalsozialistische Gefahr und zunehmende Kriegsangst.
Innenpolitik
Im Juni 1928 zwang Fürst Johann II. wegen des Sparkassaskandals die VP-Regierung zum Rücktritt und löste den Landtag auf. Aus den Neuwahlen im Juli 1928 ging eine deutliche Mehrheit der FBP von elf gegenüber vier Sitzen der VP hervor. Neuer Regierungschef wurde Josef Hoop (1895–1959) (FBP), der das Amt bis 1945 innehatte. Nach den Wahlen von 1932 verfügte die VP noch über zwei Sitze. 1929 starb Johann II. nach 71-jähriger Regentschaft, Nachfolger wurde sein Bruder Franz I.
Der Parteienstreit setzte sich fort, verschärft durch die Wirtschaftskrise. Anfang der 1930er Jahre entstanden als kurzlebige oppositionelle politische Bewegungen der Liechtensteiner Freiwirtschaftsbund, zwei sozialdemokratische Gruppen um den Oberen Arbeiterverband und um die «Liechtensteinische Arbeiter-Zeitung» sowie der Liechtensteiner Heimatdienst (LHD). Letzterer zeigte bald ständestaatliche und faschistoide Züge. Im Hinblick auf die Landtagswahlen fusionierten die Volkspartei und der Heimatdienst Anfang 1936 zur Vaterländischen Union (VU). Die Richtung in der VU gaben vor allem die Ex-LHD-Führer Otto Schaedler (nun VU-Präsident), Alois Vogt und Carl von Vogelsang vor. Die VU verlor die Landtagswahlen 1936 stimmenmässig knapp, nach Mandaten deutlich (11 FBP, 4 VU). Ihre Führer drängten 1937 im Gefolge der Spitzelaffäre Vogelsang erfolglos auf den Sturz von Regierungschef Hoop.
Die Märzkrise 1938 brachte eine politische Zäsur. Der Anschluss Österreichs an Deutschland bot den VU-Führern Gelegenheit, von der FBP den politischen Proporz in Regierung, Landtag und Verwaltung zu erzwingen. Erreicht war dadurch eine innenpolitische «Befriedung» der beiden Lager bei bleibendem Groll. Vom April 1938 bis zum Sommer 1945 bestand die Regierung aus Regierungschef Hoop (FBP), Regierungschef-Stellvertreter Alois Vogt (VU), Regierungsrat Pfarrer Anton Frommelt (FBP) und einem nebenamtlichen VU-Regierungsrat. Im März 1938 beauftragte Fürst Franz I. Erbprinz Franz Josef mit der Stellvertretung. Als Franz im Juli 1938 starb, folgte ihm Fürst Franz Josef II. auf dem Thron, er nahm 1938 als erster Fürst Wohnsitz im Land. Aufgrund eines neuen Proporzwahlrechts wurden im Frühjahr 1939 mit einer gemeinsamen FBP-VU-Wahlliste stille Wahlen durchgeführt (8 FBP-, 7 VU-Abgeordnete).
Die im März 1938 gegründete nationalsozialistische Volksdeutsche Bewegung in Liechtenstein (VDBL) wünschte den Anschluss Liechtensteins an Deutschland. Damit fand sie nur bei einer kleinen Minderheit Zustimmung. Nationalsozialisten hatten 1933 die Rotter-Entführung inszeniert und waren im LHD aktiv geworden. Ein Anschlussputsch der VDBL vom 24.3.1939 misslang. In patriotischer Reaktion sammelte die Anfang 1939 entstandene Heimattreue Vereinigung Liechtenstein innert Tagen die Unterschriften von 95,4 % aller Stimmbürger für das Bekenntnis zur Selbständigkeit des Landes. Am Pfingstmontag 1939 schworen Tausende an der Huldigungsfeier vor dem Schloss Vaduz Treue zu Fürst und Land. Die VDBL war vorläufig diskreditiert, die Putschführer sassen im Gefängnis.
In der Gesetzgebung wurden 1929–39 in pragmatisch-vorsichtigen Schritten zahlreiche Vorhaben umgesetzt. Drei Verfassungsänderungen betrafen den Landtag und die Regierung: Nach einer ersten Änderung des Wahlrechts 1932 erfolgte 1939 die Einführung des Proporzwahlrechts, die in den Volksinitiativen 1930 und 1935 noch gescheitert war; 1938 wurde die Vollamtlichkeit des stellvertretenden Regierungschefs fixiert. Politisch-polizeiliche Ordnungsmassnahmen betrafen mit einem umstrittenen Vollmachtengesetz (1933) vorab die Pressekontrolle, das Verbot von politischen Uniformen sowie Abzeichen (1934) und die Bewilligungspflicht von Demonstrationen, 1937 folgte ein Staatsschutzgesetz. Diese Instrumente wurden zusehends gegen nationalsozialistische Umtriebe wirksam. Im Sozialbereich gab es einige Neuerungen, so 1931 Gesetze über die Betriebs- und die Nichtbetriebs-Unfallversicherung und 1937 ein umfassendes Arbeiterschutzgesetz. Ohne Erfolg blieben Anläufe für eine Arbeitslosenversicherung (1931 in einer Volksabstimmung abgelehnt) und für eine AHV. Im Wirtschaftsbereich dienten gesetzliche Massnahmen vorab der Krisenbekämpfung, etwa durch eine Alkoholsteuer (1929), eine Krisensteuer (1935), Förderung der Viehzucht (1934), Erleichterungen im Betreibungsrecht (1934) und im Steuerrecht (1937), Einrichtung einer obligatorischen Gewerbegenossenschaft (1936) und Verbot von Warenhäusern (1937). Weitere Gesetze betrafen Schule (1929), Verkehr (1933), Naturschutz (1933), Landesbürgerrecht (1934), Lehrlingsausbildung (1936) und Tierschutz (1936).
Aussenpolitik
Liechtenstein richtete sich aufgrund seiner Verträge ab 1924 immer enger auf die Schweiz aus, es galt Drittstaaten zusehends als Anhängsel der Schweiz. Zahlreiche schweizerische Gesetze, Verordnungen und Handelsverträge wurden übernommen. Probleme boten unter anderem die eingeschränkte Zulassung von liechtensteinischen Arbeitskräften in der Schweiz, die Schliessung der liechtensteinischen Gesandtschaft in Bern 1933, die auf Schweizer Druck hin 1934 beendete Lotterie Mutualclub in Vaduz, ab 1938 die NS-Bewegung in Liechtenstein und 1939 die liechtensteinische Weigerung, das Ellhorn für den Ausbau der Festung Sargans abzutreten. Mit Österreich war das Verhältnis nicht mehr so eng wie zur Zeit der Zolleinigung. Ab dem März 1938 beschränkte sich der Verkehr mit dem nun deutschen Nachbarland auf das Notwendigste. Hitler-Deutschland übte ab 1933 wegen Steuerflucht und Judeneinbürgerungen Druck auf Liechtenstein aus. Ab 1933 organisierten sich Reichsdeutsche in einer «NSDAP (AO) Ortsgruppe Liechtenstein», zugeordnet der «Landesgruppe Schweiz» unter Wilhelm Gustloff. Nach dem Anschluss Österreichs 1938 gab es von Seiten des Dritten Reichs Bestrebungen, Liechtenstein ebenfalls anzuschliessen oder doch nationalsozialistisch umzuformen; Hitler lehnte Einmischungspläne jedoch am 18.3.1938 ab, und Reichsaussenminister Ribbentrop gab die Weisung heraus, Liechtenstein vorläufig bestehen zu lassen. Franz Josef stattete als fürstlicher Stellvertreter im April 1938 dem Bundesrat in Bern und als Fürst am 2./3. März 1939 Hitler und der Reichsregierung in Berlin Antrittsbesuche ab. Ende März 1939 missbilligte Hitler die Beteiligung von Parteileuten des Gaus Tirol-Vorarlberg am liechtensteinischen Anschlussputsch. Die Tschechoslowakei anerkannte Liechtenstein diplomatisch erst 1938. Nach der deutschen Besetzung Tschechiens 1938/39 suchte Fürst Franz Josef mit deutscher Unterstützung Teile der durch die tschechoslowakische Bodenreform verlorenen fürstlichen Güter in Tschechien zurückzuerlangen, ohne sichtbaren Erfolg. Die VU-Führer Alois Vogt und Otto Schaedler waren zeitweilig geneigt, Liechtenstein von der Schweiz weg und zumindest wirtschaftlich näher an das NS-Reich zu führen. Vogt stand in geheimem Kontakt mit Parteistellen im Reich. Regierung und Fürst agierten ab 1938 aussenpolitisch vorsichtig, im Bestreben, Deutschland nicht zu reizen und doch möglichst Nähe zur Schweiz zu bewahren.
Wirtschaft
Die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise traf Liechtenstein schwer. Grosse Arbeitslosigkeit herrschte ab 1930. Die Deflation traf die Bauern wegen fallender Viehabsatzpreise hart. Konsumrückgang, schwacher Geschäftsgang für Handwerk, Handel und Industrie, Not und Ratlosigkeit prägten die Krisenjahre. Die öffentliche Hand konnte indes in den 1930er Jahren unerwartet günstige Einnahmen aus Zollpauschale, Gesellschaftsabgaben, Briefmarken sowie Finanzeinbürgerungen erzielen. Land und Gemeinden konnten daher Notstandsmassnahmen finanzieren, namentlich öffentliche Bauten (unter anderem Binnenkanal, Strassen, Rüfeverbauungen, Wasserleitungen, Schulhäuser, Vaduzer Rathaus) sowie Gewerbezweige und Landwirtschaft durch Subventionen fördern (unter anderem Schülerkleidung, Knechtprämie). In der Industrie kam zu den älteren Textilfabriken 1933 die Zahnfabrik Ramco in Schaan hinzu, ausserdem eröffneten jüdische Emigranten kleinere Betriebe (unter anderem Kokosweberei Baum, Farbenfabrik Schekolin). 1928 zählte die Industrie insgesamt 541 Beschäftigte (davon 393 weiblich), 1934 noch 378 (247), 1938 dann 484 (347) und 1941 deren 433 (299). Oppositionelle wurden bei staatlichen Arbeitsvergaben öfter benachteiligt. Die wirtschlich schlimmste Zeit waren die Jahre 1933–1936, die Arbeitsnot zog sich bis 1941 fort. Der Tourismus spürte die Krise ebenfalls. Ein spezieller, wachsender Wirtschaftszweig war seit den 1920er Jahren die Gründung von Sitz- und Holdinggesellschaften zur anonymen Geschäftsabwicklung und Vermögensverwaltung für internationale, teils jüdische Kunden. Die Vermögenswerte selbst lagen nicht im Land. Die Finanzdienstleistungen, von den beiden liechtensteinischen Banken Liechtensteinische Landesbank und Bank in Liechtenstein sowie je einem halben Dutzend Anwälten und Treuhändern getätigt, zogen permanent Kritik auf sich, von aussen vorab von Deutschland, von innen von LHD und VDBL.
Gesellschaft und Kultur
Die Wohnbevölkerung wuchs in den Krisenjahren und im Zweiten Weltkrieg stetig: 1930 zählte man 9948 Einwohner, 1941 11 094 und 1945 12 141 Personen. Die Heiratsrate und die Geburtenrate sanken in den 1920er und 30er Jahren, ab 1938 stiegen sie wieder an. Ausländer waren 1930 1691 (17 %) und 1945 1882 Personen (15,5 %), der grösste Teil davon Österreicher (1930 746), gefolgt von Schweizern (436) und Deutschen (301). 1941 zählte man 1033 Deutsche (inklusive ehemaligen Österreicher), was 9,3 % der Wohnbevölkerung ausmachte. Ab 1938 lebten über 100 jüdische Flüchtlinge im Land, meist deutscher oder österreichischer Herkunft. Einheimische Auswanderung war in der Krisenzeit selten. Alltag und Kultur waren weiterhin dörflich. Neben den traditionellen Musik-, Gesang- und Theatervereinen entstanden neu Turnvereine, Skiclubs, Fussballclubs, Radvereine, der Alpenverein, auch ein Automobilclub; 1938 zählte man 154 Personenautos im Land. 1936 nahm Liechtenstein erstmals an Olympischen Spielen teil. Akademiker und Studenten gründeten 1925 die Verbindung «Rheinmark». Die Jugend wurde von den katholischen Jungmannschaften sowie Marianischen Kongregationen und ab 1931 besonders von der Pfadfinderschaft erfasst. Die von Regierung, Landtag und Fürst geförderten Pfadfinder stellten sich der NS-Bedrohung dezidiert entgegen. Der vor allem 1930–35 aktive patriotische «Heimatbund Jung Liechtenstein» war faktisch eine FBP-Jugend. Der teiluniformierte «Sturmtrupp (ST)» des LHD ähnelte einer Jung-SA. Die VDBL rief 1938 eine der Hitlerjugend entsprechende «Volksdeutsche Jugend» ins Leben. Analog formierten die Reichsdeutschen im Land eine «Reichsdeutsche Jugend».
In den 1930er Jahren nahm die Vielfalt der liechtensteinischen Presse vorübergehend durch mehrere kurzlebige, kleinere Blätter zu. Von Bedeutung war der «Liechtensteiner Heimatdienst» (1933–35), der 1936 mit den «Liechtensteiner Nachrichten» zum «Liechtensteiner Vaterland» verschmolz. Bestand hatte ab 1936 die Kirchenzeitschrift «In Christo». Von Oktober 1938 bis September 1939 sendete «Radio Liechtenstein» aus Vaduz. Radioapparate gab es in Gaststätten und Haushalten, 1934 zählte man 410 Empfänger, 1938 deren 820. Kinos konnten in Buchs und Feldkirch sowie im Gasthaus «Rössle» in Schaan, ab 1939 in Vaduz besucht werden. Die Vereine boten Theater, Konzerte und Vorträge. Angesichts der Krise schaffte die Regierung 1932 die unbeschränkten Freinächte in Gaststätten ab und erteilte ab 1934 weniger Bewilligungen für Tanz und Sperrstundenverlängerung. Der in Liechtenstein verbreiteten Armut steuerten die Gemeinden, individuelle Unterstützungsbeiträge der Regierung sowie die 1924 gegründete Caritas gegen. Bis 1937 gab es in Liechtenstein nur dörfliche Primarschulen, an denen ein Drittel der Lehrkräfte Ordensschwestern waren, und zwei Realschulen in Vaduz und Eschen. 1937 wurde in Vaduz das Collegium Marianum als Gymnasium für Knaben eröffnet, geführt von aus Deutschland verdrängten Maristen-Schulbrüdern. 1934–38 lebte auf Silum die aus Deutschland vertriebene hutterische Gemeinschaft des Almbruderhofs.
Liechtenstein zur Zeit des Zweiten Weltkriegs (1939–45)
Im Zweiten Weltkrieg war das neutrale, unbewaffnete Liechtenstein von Krieg und Anschluss bedroht. Es blieb dank dem Sieg der Alliierten über Hitler-Deutschland, dank der Schweiz und dank eigener Behauptung verschont.
Die 1938 geschlossene Koalition der FBP mit der VU hielt in der Kriegszeit. 1943 verlängerte Fürst Franz Josef II. auf Ersuchen der zwei Parteien per Notverordnung die Mandatsdauer des Landtags, um einen Wahlkampf zu vermeiden. Die VDBL, ab 1940 unter neuer Führung, strebte die völlige Umgestaltung Liechtensteins und den Totalanschluss an Deutschland an, zwar ohne Erfolg, aber unter Vergiftung des innenpolitischen Klimas. Die Landtagswahl wurde Ende April 1945 nachgeholt, sie bestätigte das Stärkeverhältnis der Regierungsparteien. Die VDBL und die auslanddeutsche NSDAP wurden beim Kriegsende verboten. Die trotz Kriegszeit rege Gesetzgebung betraf vor allem die Kriegswirtschaft. Jeweils im Mai 1940 und 1945 wurde wegen unmittelbarer Kriegsgefahr die Evakuierung der Dörfer vorbereitet.
Aussenpolitisch war Liechtenstein eng mit der Schweiz verbunden. Diese bot dem Fürstentum keinen direkten militärischen Schutz, kontrollierte aber dessen deutsche Grenze und bezog es in die gesamte kriegswirtschaftliche Organisation mit ein, wodurch die Landesversorgung gewährleistet blieb. Die Schweiz verlangte im Ausgleich Verlässlichkeit von Liechtenstein, das vor der strategischen wichtigen Festung Sargans, gegen die sich Spionage richtete, lag. Fürst und Regierung suchten das Verhältnis zu Deutschland, das Liechtenstein als Anhängsel der Schweiz behandelte, freundnachbarlich zu halten. Regierungschef-Stellvertreter Vogt sondierte 1940 insgeheim wegen Annäherung des Landes an das Reich. Hitler-Anhänger traten in die Waffen-SS ein. Fürst Franz Josef nahm ab 1941 Kontakte mit britischen und amerikanischen Diplomaten in der Schweiz auf. Ende 1944 wurde die liechtensteinische Gesandtschaft in Bern reaktiviert. Liechtenstein wurde im Februar 1945 in die Abmachungen der alliierten Mission Currie mit der Schweiz betreffend Sperrung deutscher Vermögen einbezogen, ebenso 1946 ins Washingtoner Abkommen.
Die Arbeitslosigkeit hielt bis 1941 an, danach gab es vermehrt Beschäftigung in drei neuen Metallfirmen (Presta, Hilti, PAV), im Reich und in der Schweiz. Presta und Hilti produzierten für die deutsche Rüstung. Das Gesellschaftswesen ging stark zurück und belebte sich ab 1943 wieder. Fluchtort für NS-Vermögen, Raubgut und NS-Funktionäre war Liechtenstein nicht.
Während des Kriegs herrschte in allen Bevölkerungsteilen grösste Anspannung. Eine tiefe Spaltung bestand zwischen Nationalsozialisten und Gegnern, sie entlud sich in Hass und Tätlichkeiten. Jüdische Flüchtlinge im Land fürchteten um ihr Leben, Deutsche waren vom Reich aus kontrolliert. Deutsche Männer mussten an die Front, Schweizer zum Aktivdienst an die Grenze. In der Kriegszeit wurde vermehrt Radio gehört, Zeitung gelesen, das Kino besucht, getanzt, auch mehr als im Frieden gebetet. Ab 1943 schwand die Erwartung, Hitler könnte siegen.
Beim Kriegsende 1945 war die Erleichterung enorm. Die Umstellung der Wirtschaft vom Krieg auf den Frieden dauerte bis 1948. Die befürchtete Massenarbeitslosigkeit trat nicht ein, da der industrielle und gesamtwirtschaftliche Aufschwung bald einsetzte. Neue Männer traten in der weitergeführten FBP-VU-Koalition an die Spitze, geführt von Regierungschef Alexander Frick (FBP). Die von NS-Gegnern geforderte politische «Säuberung» geschah im engen Rahmen des Strafgesetzes, belangt wurde nur, wer Gesetze gebrochen hatte. Innenpolitischer Friede wurde angestrebt, um die Nachkriegszeit zu bewältigen. Vergessen wurde in der Bevölkerung das Tun und Reden der Nationalsozialisten nicht. Die historische Aufarbeitung der NS-Zeit setzte erst in den 1970er Jahren ein.
Peter Geiger
Liechtenstein nach 1945
Nach 1945 erfuhr Liechtenstein einen tief greifenden gesellschaftlichen Wandel, eine Festigung der politischen Stabilität und einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung.
Bevölkerung, Siedlung, Gesellschaft
Die liechtensteinische Bevölkerung verdreifachte sich zwischen 1945 und 2005 von 12 141 auf 34 905 Einwohner. Dazu trug wesentlich die Einwanderung bei: Der Ausländeranteil stieg zwischen 1950 und 2003 von 20 % auf 34 %. Die Geburtenrate sank von 27,3 Geburten pro 1000 Einwohnern im Jahr 1945 auf 12,1 im Jahr 2001. Der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung wuchs von 1950 bis 2000 von 8 % auf 11 %.
Das Bevölkerungs- und das Wirtschaftswachstum führten zu grundlegenden Veränderungen in Siedlung und Landschaft sowie in den allgemeinen Lebensverhältnissen. Der mit dem Wachstum einhergehende Bauboom wurde bei den privaten Bauten durch das Eigenheimförderungsgesetz von 1958 und bei den öffentlichen Bauten durch den Auf- und Ausbau der Infrastruktur gestützt: Neben neuen Schulbauten, Gemeindehäusern, Sportanlagen etc. entstand ein dichtes Netz von Strassen und von Anlagen der Wasserversorgung, Kanalisation, Abwasserreinigung, Stromversorgung (→ Saminawerk 1949), Telekommunikation usw. Damit verbunden waren steigende Bodenpreise und Mietzinse sowie eine zunehmende Zersiedelung. Um diese etwa im Zusammenwachsen einzelner Gemeinden sichtbare Entwicklung zu steuern, sah bereits das Baugesetz von 1947 Massnahmen zur Raumplanung vor. In der Folge kam es jedoch zu grosszügigen Ausscheidungen von Bauzonen, Baulandumlegungen und -erschliessungen.
Der Wandel zu einer Konsum- und Freizeitgesellschaft spiegelt sich zum Beispiel in der Aufhebung des Warenhausverbots 1969, der Ausbreitung des Sports und des Anspruchs auf Ferien, der wachsenden Mobilität und der Motorisierung. Letztere hat trotz des Ausbaus des öffentlichen Verkehrs vor allem ab den 1990er Jahren zu Verkehrsproblemen geführt. In der Zunahme der Scheidungs- und der Alleinerziehendenrate, der Mietwohnverhältnisse und Einpersonenhaushalte sowie in geänderten Geschlechterrollen (z.B. sichtbar in der Mädchenerziehung und der Frauenerwerbsarbeit) wird auch ein Wertewandel deutlich. Mit der Einführung der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) 1954 begann ein starker Ausbau der Sozialversicherung (→ Sozialstaat). Ab den 1970er Jahren sahen sich Gesellschaft und Staat mit neuen Aufgaben und Problemen konfrontiert, etwa in den Bereichen Umwelt und Naturschutz (Gründung der Liechtensteinischen Gesellschaft für Umweltschutz LGU 1973), Gesundheitswesen (z.B. Aids), Drogen (1983 erstes Betäubungsmittelgesetz), Asyl (1998 Schaffung eines Flüchtlingsgesetzes und eines Flüchtlingsheims) und neue Armut.
In den 1990er Jahren hielten neue elektronische Massenmedien wie das Radio (Radio L ab 1995), das Fernsehen (Landeskanal ab 1992, Gemeindekanäle) und das Internet Einzug (→ Medien). Die Presse wird trotz einzelner neuer Produkte nach wie vor von den Tageszeitungen «Liechtensteiner Vaterland» und «Liechtensteiner Volksblatt» dominiert.
Politik
Die lange Regierungszeit Fürst Franz Josefs II. war geprägt durch das in der Zeit des Zweiten Weltkriegs und des wirtschaftlichen Aufschwungs in der Nachkriegszeit entstandene Bild vom umsichtig und klug agierenden Landesvater, dem mit seiner Frau Georgine eine beliebte Fürstin zur Seite stand. Mit dem Tod des Fürstenpaars 1989 ging diese Ära zu Ende. Der Thronfolger Hans-Adam II. (ab 1984 Stellvertreter des Fürsten) nahm vermehrt Einfluss auf die Aussen- und Innenpolitik, was vor allem nach der Staatskrise von 1992 zu Auseinandersetzungen um die Verfassung führte. Eine Verfassungsinitiative des Fürstenhauses wurde am 14./16.3.2003 in einer Volksabstimmung von zwei Dritteln der Bevölkerung gutgeheissen. 2004 setzte Hans-Adam II. Erbprinz Alois als seinen Stellvertreter ein.
In der Innenpolitik dominierte 1928–70 die Fortschrittliche Bürgerpartei (FBP). Sie wurde 1970 von der Vaterländischen Union (VU) abgelöst, die mit kurzen Unterbrechungen (1974–78 und 1993 erneute FBP-Mehrheiten) bis 2001 die Majorität in Landtag und Regierung stellte. Nach ihrer Wahlniederlage 1997 ging die FBP in die Opposition, was das Ende der seit 1938 bestehenden Koalition zwischen FBP und VU bedeutete: 1997–2001 beziehungsweise 2001–05 regierten VU beziehungsweise FBP allein. Seit 2005 besteht wieder eine grosse Koalition zwischen FBP und VU. 2005–09 stellte die FBP die Mehrheit, 2009 löste sie die VU ab. Nach 1945 wurde der Landtag viermal vorzeitig vom Fürsten aufgelöst: dreimal aufgrund einer Selbstblockade des Landtags (1953 infolge Uneinigkeit über die Besetzung des AHV-Verwaltungsrats, 1958 aufgrund einer Wahlbeschwerde, 1989 wegen der Staatsgerichtshofaffäre), 1993 trotz Funktionstüchtigkeit des Landtags nach einem Misstrauensantrag gegen Regierungschef Markus Büchel.
Es gab wiederholt Versuche zur Etablierung weiterer Parteien, die aber mit Ausnahme der Freien Liste alle wieder verschwunden sind. Mit dieser 1985 gegründeten Partei gelang 1993 erstmals einer dritten Kraft der Einzug in den Landtag. Besonders durch die Vernehmlassung nehmen auch Verbände und Vereinigungen Einfluss auf die Politik, unter anderem der Arbeitnehmerverband (gegründet 1920), die Gewerbe- und Wirtschaftskammer (1936), die Industrie- und Handelskammer (1947), der Bankenverband (1969) und die LGU (1973).
Wichtige innenpolitische Reformen waren verschiedene Liberalisierungen des Bürgerrechts, die Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts 1984 und die Verankerung der Gleichstellung von Mann und Frau in der Verfassung 1992. 1959 wurde das Gemeindegesetz von 1864 revidiert; das neue Gemeindegesetz von 1996 hatte in mehreren Gemeinden die Trennung zwischen politischer Gemeinde und Bürgergenossenschaft zur Folge.
Die Aussenpolitik nach 1945 ist geprägt durch die Erweiterung der auf die Schweiz konzentrierten zu einer multilateralen Politik. Zu dieser neuen Ausrichtung gehören neben der Errichtung von Auslandsvertretungen vor allem die Beteiligung an der Europäischen Integration sowie der Beitritt zu internationalen Organisationen und Abkommen wie dem Internationalen Gerichtshof 1950, der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) 1960 beziehungsweise 1991, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) 1975 beziehungsweise 1990, dem Europarat 1978, den Vereinten Nationen (UNO) 1990, dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 1995 und der Welthandelsorganisation (WTO) 1995. Der Prozess der Liberalisierung und Globalisierung beschleunigt die Internationalisierung Liechtensteins.
Das Wachstum der staatlichen Aufgaben schlug sich in einem enormen Anstieg des öffentlichen Haushalts nieder: 1945 betrugen Ertrag und Aufwand je etwa 2,5 Mio. Fr., 2002 rund 748 Mio. Fr. respektive 650 Mio. Fr.
Wirtschaft
Seit 1945 hat sich Liechtenstein vom armen Agrarstaat zu einem Industrie- und Dienstleistungsstandort entwickelt. Es ist heute – gemessen am Volkseinkommen pro Kopf – eines der reichsten Länder der Welt. Zu den Voraussetzungen für diesen Aufschwung gehörten neben der wirtschaftlichen Entwicklung in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg Standortvorteile wie die politische Stabilität, der Zollanschlussvertrag mit der Schweiz, die Verwendung des Schweizer Frankens als Währung (→ Geld), die Steuergesetzgebung und das Personen- und Gesellschaftsrecht (1926), die Liechtenstein als Standort für Unternehmen und Sitzgesellschaften prädestinieren. Der 1. Sektor (Land- und Forstwirtschaft) verlor nach 1945 rasch an Bedeutung. Die Beschäftigten wanderten ab den 1940er Jahren in den 2. Sektor (Handwerk und Industrie) ab. Neben einem starken Wachstum des Gewerbes erlebte Liechtenstein eine «zweite Industrialisierung» mit Schwerpunkten im Maschinenbau, in der Nahrungsmittelproduktion und der Kunststoffverarbeitung. Liechtensteins Industrie ist stark export- und importabhängig (→ Aussenwirtschaft). Ab den 1950er Jahren wurde der 3. Sektor (→ Dienstleistungen) zu einem wichtigen Standbein der Wirtschaft und der Staatsfinanzen. Während der 2. Sektor nicht von Rezessionen verschont blieb (→ Konjunktur), entwickelten sich die Finanzdienstleistungen und Banken bis in die 1990er Jahre ungebremst. Allerdings geriet der Finanzplatz im In- und Ausland wiederholt in Kritik.
Bis in die 1980er Jahre herrschte Vollbeschäftigung. Die Arbeitslosigkeit stieg vor allem ab den 1990er Jahren an. Der während Jahrzehnten ausgetrocknete Arbeitsmarkt und die strukturelle Abhängigkeit von ausländischen Arbeitskräften – es mussten sowohl Spezialisten als auch ungelernte Arbeitskräfte aus dem Ausland angeworben werden – liess die Zahl der Grenzgänger, der Niedergelassenen und zeitweilig der Saisonniers stark anwachsen. Ausländer stellten 2002 mit 18 805 Personen über 65 % der 28 814 in Liechtenstein Beschäftigten (davon 13 030 Pendler). Diese Entwicklung führte schon ab den 1950er Jahren zu unter anderem vom Arbeitnehmerverband thematisierten Überfremdungsängsten und einer restriktiven Niederlassungspolitik.
In den 1990er Jahren kam es – auch infolge des Beitritts zum EWR – zu Liberalisierungen, unter anderem in den Bereichen Banken, Telekommunikation, Post (Gründung der Liechtensteinischen Post AG 1999), Gesundheitswesen, Versicherung, freie Berufe (Ärzte, Architekten, Rechtsanwälte).
Kirche, Kultur, Bildung
1970 wurde das bischöfliche Landesvikariat in das Dekanat Liechtenstein umgewandelt. Mit der Ernennung des aus Liechtenstein stammenden Churer Bischofs Wolfgang Haas zum Erzbischof 1997 entstand durch Abtrennung vom Bistum Chur das Erzbistum Vaduz – trotz Protesten von Regierung, Landtag und Teilen der Bevölkerung. Wenn auch der Einfluss der katholischen Kirche sowie ihre Verankerung in der Bevölkerung nach wie vor gross sind, so hat ihre gesellschaftlich-politische Bedeutung gesamthaft gesehen doch abgenommen, was sich etwa an der gesunkenen Zahl der Kirchgänger, der Einführung der Zivilehe 1974 oder dem Rückzug der Kirche aus dem Schulwesen (mit Ausnahme des Religionsunterrichts) manifestiert. Zudem ist die Zahl der in Liechtenstein vertretenen Religionen und Bekenntnisse infolge der Zuwanderung gestiegen.
Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung wuchsen auch die der Kulturförderung zur Verfügung stehenden Mittel. Der 1964 geschaffene staatliche Kultur- und Jugendbeirat (seit 1979 Kulturbeirat) sowie private Stiftungen unterstützen unter anderem in den Bereichen Kunstschaffen, Literatur und Musik tätige Personen und Vereine sowie Theater und Museen. Zu den wichtigsten nach 1945 gegründeten kulturellen Institutionen gehören das Liechtensteinische Landesmuseum (1954/1972), die Liechtensteinische Landesbibliothek und das Landesarchiv (beide 1961), die Liechtensteinische Musikschule (1963), das Theater am Kirchplatz (1972), die Staatliche Kunstsammlungen (heute Kunstmuseum Liechtenstein) und die Kunstschule Liechtenstein (1993).
Der zunehmende Bedarf an gut ausgebildeten Fachkräften hatte den Ausbau des Bildungssystems zur Folge. Die im Schulgesetz von 1971 geschaffene Schulstruktur (fünfjährige Primarschule, danach Differenzierung in drei Schultypen) ist auch heute noch weitgehend gültig. 1981 wurde das obligatorische 9. Schuljahr eingeführt und das Liechtensteinische Gymnasium in Vaduz in eine staatliche Schule umgewandelt. 1961 erfolgte die Gründung des Abendtechnikums Vaduz (heute Universität Liechtenstein) und 1986 des Liechtenstein-Instituts in Bendern.
Donat Büchel
Archive
- Liechtensteinisches Landesarchiv (LI LA).
Quellen
- Liechtensteinisches Urkundenbuch, Teil II: Die Herrschaftszeit der Freiherren von Brandis, 1416–1510, bearb. von Claudius Gurt (LUB II digital).
- Liechtensteinisches Urkundenbuch, Teil I: Von den Anfängen bis zum Tod Bischof Hartmanns von Werdenberg-Sargans-Vaduz 1416, 6 Bde., Vaduz 1996 (LUB I/1-6).
- Liechtenstein 1978–1988. Bilder, Texte und Dokumente, hg. von der Fürstlichen Regierung, Redaktion: Norbert Jansen, Robert Allgäuer, Vaduz 1988.
- Beiträge zur geschichtlichen Entwicklung der politischen Volksrechte, des Parlaments und der Gerichtsbarkeit in Liechtenstein Anhang: Verfassungstexte 1808–1918, Vaduz 1981 (= Liechtenstein Politische Schriften, Bd. 8).
- Liechtenstein 1938–1978. Bilder und Dokumente, hg. von der Fürstlichen Regierung, Redaktion: Norbert Jansen, Robert Allgäuer, Vaduz 1978.
- Statistisches Jahrbuch Fürstentum Liechtenstein, hg. vom Amt für Volkswirtschaft, Vaduz 1977– (seit 2009 Statistisches Jahrbuch Liechtensteins, hg. vom Amt für Statistik).
- Alois Ospelt: Wirtschaftsgeschichte des Fürstentums Liechtenstein im 19. Jahrhundert. Anhang, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 72 (1972).
- Rechenschaftsbericht der fürstlichen Regierung an den hohen Landtag, Vaduz 1922–.
- Kaufvertrag der Herrschaft Schellenberg 1699, hg. vom Liechtenstein-Institut, bearb. von Claudius Gurt, Vaduz 1999.
Literatur
Ur- und Frühgeschichte:
- Goldene Jahrhunderte: die Bronzezeit in Südwestdeutschland, Redaktion Gabriele Kastl et al., Stuttgart 1997 (= Almanach 2).
- Anna Merz et al.: Zwei Pollenanalysen aus Liechtensteiner Riedlandschaften, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 93 (1995), S. 257–270.
- Neolithikum, hg. von Werner E. Stöckli et al., Basel 1995.
- Paläolithikum und Mesolithikum, Redaktion Jean-Marie Le Tensorer, Urs Niffeler, Basel 1993.
- Jakob Bill et al.: Liechtensteinische Keramikfunde der Eisenzeit, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 91 (1992), S. 85–165.
- Ergrabene Geschichte. Die archäologischen Ausgrabungen im Fürstentum Liechtenstein 1977–1984, Ausstellung im Liechtensteinischen Landesmuseum Vaduz 31. März – 31. Oktober 1985, hg. vom Historischen Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Redaktion: Jakob Bill, Vaduz 1985.
- Archäologie im Fürstentum Liechtenstein, hg. von Rudolf Degen, Basel 1978 (= Helvetia Archaeologica 9, H. 34/36), S. 73–256.
Mittelalter bis 21. Jahrhundert:
- Rupert Quaderer-Vogt: Bewegte Zeiten in Liechtenstein 1914 bis 1926, 3 Bände, Vaduz/Zürich 2014.
- Peter Geiger: Kriegszeit. Liechtenstein 1939 bis 1945, 2 Bände, Vaduz/Zürich 2010.
- Christoph Maria Merki: Wirtschaftswunder Liechtenstein. Die rasche Modernisierung einer kleinen Volkswirtschaft im 20. Jahrhundert, Zürich/Triesen 2007.
- Peter Geiger, Arthur Brunhart, David Bankier, Dan Michman, Carlo Moos, Erika Weinzierl: Fragen zu Liechtenstein in der NS-Zeit und im Zweiten Weltkrieg: Flüchtlinge, Vermögenswerte, Kunst, Rüstungsproduktion. Schlussbericht der Unabhängigen Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Weltkrieg, Vaduz/Zürich 2005.
- David Beattie: Liechtenstein. A modern history, London 2004.
- Karin Schamberger-Rogl: «Landts Brauch oder Erbrecht» in der «Vaduzischen Grafschaft üblichen». Ein Dokument aus dem Jahr 1667 als Grundlage für landschaftliche Rechtsprechung, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 101 (2002), S. 1–127.
- Arthur Brunhart (Hg.): Liechtenstein und die Revolution 1848. Umfeld – Ursachen – Ereignisse – Folgen, Zürich 2000.
- Peter Geiger: Liechtenstein seit dem Ersten Weltkrieg (1918–2000), in: Bauen für Liechtenstein. Ausgewählte Beiträge zur Gestaltung einer Kulturlandschaft, hg. von Patrik Birrer (Hochbauamt/Denkmalpflege), Vaduz 2000, S. 30–47.
- Peter Geiger: Krisenzeit. Liechtenstein in den Dreissigerjahren 1928–1939, 2 Bände, Vaduz/Zürich 1997, 22000.
- Rupert Quaderer: Liechtenstein im 19. Jahrhundert (1806–1914), in: Bauen für Liechtenstein. Ausgewählte Beiträge zur Gestaltung einer Kulturlandschaft, hg. von Patrik Birrer (Hochbauamt/Denkmalpflege), Vaduz 2000, S. 10–29.
- Paul Vogt: Der 18. Januar 1699 – Wendepunkt unserer Geschichte?, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 99 (2000), S. 1–37.
- Jürgen Schremser: «Der einzige Mann, der die Sache auf sich nehmen könnte ...». Zur Rolle von Dr. Alois Vogt in den liechtensteinisch-deutschen Beziehungen 1938 bis 1945, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 98 (1999), S. 49–108.
- Bausteine, zur liechtensteinischen Geschichte. Studien und studentische Forschungsbeiträge, hg. von Arthur Brunhart, 3 Bände, Zürich 1999.
- Norbert Korfmacher: Der Landtag des Fürstentums Liechtenstein 1922–1945, Münster 1999.
- Norbert Jansen, Pio Schurti: Nach Amerika! Geschichte der liechtensteinischen Auswanderung nach Amerika in zwei Bänden, Bd. 1: Norbert Jansen: Auswanderung im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 2: Biographische und persönliche Beiträge, hg. von Pio Schurti und Norbert Jansen, Vaduz/Zürich 1998.
- Manfred Tschaikner: «Der Teufel und die Hexen müssen aus dem Land ...». Frühzeitliche Hexenverfolgungen in Liechtenstein, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 96 (1998), S. 1–198.
- Andreas Bellasi, Ursula Riederer: Alsleben, alias Sommerlad: Liechtenstein, die Schweiz und das Reich, Zürich 1997.
- Die Schlossabmachungen vom September 1920. Studien und Quellen zur politischen Geschichte des Fürstentums Liechtenstein im frühen 20. Jahrhundert, hg. von der Vaterländischen Union, Redaktion: Arthur Brunhart, Vaduz 1996.
- Arno Waschkuhn: Politisches System Liechtensteins. Kontinuität und Wandel, Vaduz 1994 (= Liechtenstein Politische Schriften, Bd. 18).
- Roger Sablonier: Graf Hartmann sol ze tail werden Vadutz, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 92 (1994), S. 1–33.
- Alois Niederstätter: Aspekte des Landesausbaus und der Herrschaftsverdichtung zwischen Bodensee und Alpen im 11. bis 14. Jahrhundert, in: Montfort 44 (1992), S. 48–62.
- 1342. Zeugen des späten Mittelalters. Festschrift «650 Jahre Grafschaft Vaduz», hg. von Hansjörg Frommelt im Auftrag des Liechtensteinischen Landesmuseums, Vaduz 1992.
- Rupert Quaderer: Wird das Contingent als das Unglück des Landes angesehen. Liechtensteinische Militärgeschichte von 1814 bis 1849, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 90 (1991), S. 1–282.
- Paul Vogt: Brücken zur Vergangenheit. Ein Text- und Arbeitsbuch zur liechtensteinischen Geschichte. 17. bis 19. Jahrhundert, hg. vom Schulamt des Fürstentums Liechtenstein, Vaduz 1990.
- Paul Vogt: 125 Jahre Landtag, hg. vom Landtag des Fürstentums Liechtenstein, Vaduz 1987, 21988.
- Graham Martin: Das Bildungswesen des Fürstentums Liechtenstein. Nationale und internationale Elemente im Bildungssystem eines europäischen Kleinstaates, Zürich 1984.
- Das Fürstentum Liechtenstein. Ein landeskundliches Portrait, hg. von Wolfgang Müller, Bühl/Baden 1981.
- Adulf Peter Goop: Liechtenstein gestern und heute, Vaduz 1973.
- Herbert Wille: Staat und Kirche im Fürstentum Liechtenstein, Freiburg 1972 (=Freiburger Veröffentlichungen aus dem Gebiete von Kirche und Staat, Bd. 15).
- Alois Ospelt: Wirtschaftsgeschichte des Fürstentums Liechtenstein im 19. Jahrhundert. Von den napoleonischen Kriegen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 72 (1972), S. 5–423.
- Peter Geiger: Geschichte des Fürstentums Liechtenstein 1848 bis 1866, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 70 (1970), S. 5–418.
- Rupert Quaderer: Politische Geschichte des Fürstentums Liechtenstein von 1815 bis 1848, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 69 (1969), S. 5–242.
- Pierre Raton: Liechtenstein. Staat und Geschichte, Vaduz 1969.
- Otto Seger: 250 Jahre Fürstentum Liechtenstein, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 68 (1968), S. 5–61.
- Otto Seger: Zur Erwerbung der Grafschaft Vaduz durch Fürst Johann Adam von Liechtenstein vor zweihundertfünfzig Jahren, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 61 (1961), S. 5–23.
- Otto Seger: Aus den alten Zeiten des Herrschaftsüberganges von Brandis zu Sulz und von Sulz zu Hohenems, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 60 (1960), S. 25–70.
- Otto Seger: Von Hohenems zu Liechtenstein, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 58 (1958), S. 91–133.
- Georg Malin: Die politische Geschichte des Fürstentums Liechtenstein in den Jahren 1800–1815, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 53 (1953), S. 5–178.
- Joseph Ospelt: Die Gründung der Grafschaft Vaduz, nebst kurzer Geschichte der vorausgegangenen Zeit, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 41 (1941), S. 5–69.
- Albert Schädler: Die geschichtliche Entwicklung Liechtensteins mit besonderer Berücksichtigung der neueren Zeit, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 19 (1919), S. 5–72.
- Albert Schädler: Huldigungs-Akte bei dem Uebergang der Herrschaft Schellenberg und Grafschaft Vaduz an die Fürsten von Liechtenstein, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 10 (1910), S. 5–30.
- Albert Schädler: Die alten Rechtsgewohnheiten und Landsordnungen der Grafschaft Vaduz und der Herrschaft Schellenberg, sowie des nachherigen Fürstentums Liechtenstein, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 5 (1905), S. 39–85.
- Carl von In der Maur: Die Gründung des Fürstenthums Liechtenstein, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 1 (1901), S. 5–80.
- Peter Kaiser: Geschichte des Fürstenthums Liechtenstein. Nebst Schilderungen aus Chur-Rätien’s Vorzeit, Chur 1847, neu hg. von Arthur Brunhart, Bd. 1: Text, Bd. 2: Apparat, Vaduz 1989.
Zitierweise
<<Autor>>, «Liechtenstein (Land)», Stand: 31.12.2011, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), URL: <<URL>>, abgerufen am 16.2.2025.
Medien

Nach der Erhebung Liechtensteins zum Reichsfürstentum (1719) liess Fürst Anton Florian das Gebiet kartografisch erfassen. Im Auftrag des Fürsten zeichnete der Geometer Johann Jacob Heber aus Lindau am Bodensee die erste Spezialkarte von Liechtenstein.

