Orts- und Flurnamen

Autor: Hans Stricker | Stand: 31.12.2011

Einleitung

Ein Ortsname (Toponym) ist in den Geowissenschaften der Name eines topografischen Objekts. In der Sprach- und Namenforschung bezeichnet der Ortsname ein Gebiet mit Häusern: einen Einzelhof, einen Weiler, ein Dorf, eine Gemeinde, eine Stadt, eine Burg usw. Die Bezeichnungen von Gebietsabschnitten ohne Häuser, also von Wiesen, Weiden, Äckern, Rodungsabschnitten, Waldstücken, Bergen, Tälern, Felsgebieten usw., heissen Flurname oder Geländename. Die Orts- und Flurnamenforschung (auch Toponymie oder Toponomastik genannt) beschäftigt sich also nicht nur mit Siedlungsnamen im engeren Sinn, sondern auch mit Flur- und Geländenamen sowie mit der Sonderklasse der Gewässernamen (Hydronyme).

Ortsnamen – Namen überhaupt – sind sprachliche Zeichen; sie bilden als Teil des Systems natürlicher Sprachen mit den Wörtern (Appellativa) zusammen das sogenannte Lexikon (mit der herkömmlichen Gegenüberstellung Name versus Wort). Die Namen werden der Klasse der Substantive zugeordnet, die auf anderer Ebene auch in die Unterklassen der Konkreta und der Abstrakta unterteilt wird; sie gehören dort zu den Konkreta, da Eigennamen im Prinzip konkrete Wesen und Orte betreffen.

Da die Orts- und Flurnamen weit in die schriftlose Vergangenheit zurückreichen, gehören sie in ihrer Überlieferung zu den ältesten Sprachzeugnissen eines Raums. Sie sind «ungeschriebene Geschichte», stellen versteinerte Reste älterer Epochen dar. Gross ist daher das Interesse der Sprach- und Kulturgeschichtsforschung an ihrer Entschlüsselung. Sie geben Auskunft zu älteren Sprachschichten und Sprachwechseln, zu Mundartentwicklung und -wandel. Neben den durch sie eröffneten Einblicken in Laut- und Formstrukturen, in Wortbildung, Bedeutungen und Bedeutungswandel ist die Erforschung der Orts- und Flurnamen eine wichtige Erkenntnisquelle für Ethnologie, Volkskunde, Geschichte (Siedlungs-, Wirtschafts-, Religions-, allgemeine Kulturgeschichte) und Archäologie.

Die Liechtensteiner Namenlandschaft

Liechtenstein als Teilgebiet der römischen Provinz Rätien und des frühmittelalterlichen Churrätien teilt sprachgeschichtlich den Werdegang dieser grösseren Räume (→ Sprache). Auf die rätische und keltische Besiedlung folgte die römische Eroberung und damit die Romanisierung des Gebiets und die Entstehung des rätoromanischen («churwelschen») Idioms. Dieses blieb rund 1000 Jahre Landessprache und hat in zahlreichen Orts- und Flurnamen bis heute deutliche Spuren hinterlassen. Mit der Ablösung des Romanischen durch die alemannische Volkssprache (zwischen dem 9. und dem 13. Jahrhundert) und unterstützt durch die Einwanderung der Walser am Triesenberg begann sich schliesslich die heutige Mundartlandschaft auszuformen. Aus ihr entstand in der Folge eine deutsche Namenschicht, die heute umfangmässig weitaus im Vordergrund steht.

So besteht in Liechtenstein und seiner Umgebung eine mehrfache Namenschichtung: 1. vorrömische Namen: a) «rätisch»: Bludenz, Bürs, Nüziders, Schnifis, Tisis, Götzis (alle Vorarlberg), evtl. Schaan, Triesen usw., b) keltisch: Röns, Düns, Göfis, Tosters, Schlins (alle Vorarlberg), Eschen, Bendern, Nendeln, Mäls usw.; 2. lateinisch-rätoromanische Namen: Balzers, Planken, Vaduz, Gritsch (Schaan), Sareis (Triesenberg), Iraggell (Vaduz), Resch (Schaan), Flux (Eschen), Garlanga (Mauren) usw.; 3. deutsche Namen: a) hochalemannisch (Talmundarten): Drechslergass (Vaduz), Brunnastoba (Schaan), Barietle (Mauren), Kolbrünnile (Gamprin), Holakärebni (Ruggell) usw., b) höchstalemannisch (walserisch): Chlasanegga, Chlei Fed, Hüschi, Rogganacherbord, Rütelti (alle Triesenberg) usw.

Aussagekraft der Orts- und Flurnamen zur Sprachgeschichte

Während der Beitrag der Toponomastik zur Kenntnis der vorrömischen Sprachverhältnisse marginal bleibt, erweist er sich mit Blick auf das Alträtoromanische (und natürlich auf das Deutsche) als aufschlussreich. An dieser Stelle seien vor allem romanistische Aspekte (mit Einschluss des deutsch-romanischen Sprachwechsels) in den Vordergrund gestellt.

Ortsnamen-s: Namen wie Aviols (Balzers), Faschiels, Runkels (beide Triesen), Dux, Sax (beide Schaan), Flux (Eschen), Gampalütz (Mauren), Bangs (Ruggell) weisen mit ihrem Endungs-s hin auf die noch im Alträtoromanischen lebendige Zweikasusflexion (wo der lateinische Nominativ -us/-is und der Akkusativ -um/-em noch mittels Endungen voneinander unterschieden wurden). Während sich in der rätoromanischen Umgangssprache die Akkusativformen durchsetzten, blieben in der Zeit der Zweisprachigkeit die alten Nominativformen auf -s im Sprachgebrauch der alemannischen Bevölkerung haften, wurden zum Merkzeichen «deutscher» Namensformen und setzten sich hier durch. In Graubünden ist das Nebeneinander bis heute zu beobachten; vergleiche: Flims/Flem, Trins/Trin, Truns/Trun usw. Dasselbe Verhältnis zeigt sich etwa auch im Montafun, wo neben geschriebenem Schruns, Tschagguns das mundartliche Schrú, Tschaggú steht.

Romanische Namen, verbunden mit deutsch a(n), i(n): Ein besonders aufschlussreiches Phänomen stellen die rund 180 im Raum Werdenberg, Liechtenstein, Walgau und Quarten (Walensee) verbreiteten romanischen Geländenamen dar, die sich im Anlaut mit einer deutschen Ortspräposition (an, in) fest verbunden haben (sogenannte Agglutination), also Namen wie Avióls, Irafríeg, Iratéll (alle drei Balzers), Eggastálta, Eggatätsch (beide Triesen), Amiséscha, Imperzáa (beide Triesenberg), Iraggéll, Iratétsch (beide Vaduz), Efiplánka, Efisálf (beide Schaan), Wisanéls (Mauren), Amadétscha (Schellenberg). Sie alle begannen ursprünglich mit der unbetonten Zweitsilbe (Vióls, Rafríeg, Ratéll, Perzáa, Raggéll, Ratétsch usw.). Die Verbindung mit der deutschen Präposition fand spätestens im 14. Jahrhundert statt, jedenfalls als die beiden Sprachen noch nebeneinander lebten. Auslöser war die «jambische» Betonung (Typ: Ratéll mit schwachtoniger Anlautsilbe), die den zugezogenen und offenbar bis dahin mit dem Rätoromanischen nicht in Kontakt stehenden Alamannen ungewohnt war, während sie umgekehrt für das Rätoromanische typisch ist. Mit der Anbindung der (im Satzzusammenhang ohnehin meist vor dem Namen stehenden) Ortspräposition wurde die Betonungsstruktur der Namen «teilalemannisiert»: es entstand ein eigener, unterrätischer romanisch-deutscher Namentyp. Der Vorgang lässt den Schluss zu, dass der Sprachwechsel in unserem Raum mit erheblichen Schüben alemannischer Zuwanderung verbunden war, dass also das Verschwinden des Romanischen nicht durch blossen Sprachwechsel der heimischen Bevölkerung zustande kam.

Rumpfnamen: Deutsche Betonungsgewohnheiten führten auch zur Ausbildung von sogenannten «Rumpfnamen»: Fina (Triesen, Schaan) ist entstanden aus rätoromanisch *rovina, Lums (Schellenberg) aus rätoromanisch *salums. Auch Silbenschwund durch Synkopierung diente demselben Ziel: Prer (Balzers) geht auf rätoromanisch pirèr «Birnbaum» zurück, Bretscha (Schaan) (über *mretscha) auf ein altes *maretscha.

Romanische Namen mit deutscher Endung: Es fallen zahlreiche deutsche Diminutiv- sowie einige Pluralbildungen an romanischen Namen auf: Tröxle (Schaan) (zu: *Trox), Güschgle (Balzers) (zu: Guschg), urkundlich Bängsle (Ruggell) (zu: Bangs). Hier kann die Verkleinerung nicht etwa auf die etymologische Bedeutung dieser Namen bezogen sein; sie bezeichnet vielmehr die räumliche (allenfalls auch rechtlich-besitzmässige) Abspaltung und Eigenbenennung eines Teilgebiets von dem mit dem Grundnamen bezeichneten Raum. Ähnlich lässt sich bei Pluralbildungen wie (die) Epariöler (Triesen) (zum Singular Epariol) oder (die) Iraduga (Balzers) (zum Singular Iradug) vermuten, dass eine Aufteilung dieser Gebiete in mehrere Nutzungseinheiten zu dieser «Vermehrung» Anlass gab.

Übersetzungsnamen: Während der Generationen überspannenden Epoche der Zweisprachigkeit wurden viele romanische Namen ins Deutsche übersetzt, bevor sie in ihrer ursprünglichen Form abgingen. Damit ging zwar diese Letztere verloren, nicht aber ihr Sinngehalt, ihre etymologische Bedeutung. Oft gelingt es, aus dem örtlich benachbarten Auftreten sinnentsprechender Bezeichnungen in beiden Sprachen oder in hybriden (sprachlich gemischten) Doppelnamen diesen Prozess sichtbar zu machen. Hierher gehören Namenpaare wie: Hochegg: Eggastalta (aus rätoromanisch crest’aulta «hohe Egg») in Triesen; Bim grossa Stein: Pedergross (aus rätoromanisch pedra grossa «beim grossen, dicken Stein») in Balzers; urkundlich Langacker: Garlanga (aus rätoromanisch èr lung «langer Acker») in Mauren. Eine Doppelbenennung liegt dort vor, wo ein Name übersetzt wird, dann aber die deutsche und die romanische Form verbunden als Doppelname weiterleben: so etwa beim urkundlich belegten Namen Pradwesa (Balzers), wo rätoromanisch prada «Wiesland» und mundartlich Wesa (Plural) sich verbunden haben.

Literatur

Externe Links

Zitierweise

<<Autor>>, «Orts- und Flurnamen», Stand: 31.12.2011, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), URL: <<URL>>, abgerufen am 9.2.2025.