
Römerzeit
Autorin: Judith Niederklopfer-Würtinger | Stand: 31.12.2011
Mit dem Alpenfeldzug der Stiefsöhne des Kaisers Augustus, Drusus und Tiberius, im Jahr 15 v.Chr. begann für Liechtenstein die römische Epoche. Da Gallien nach der Eroberung durch Caesar (58–51 v.Chr.) immer wieder von gallischen Aufständen und Einfällen von Germanen bedroht war, sollten mit dem in mehreren Etappen erfolgten Eroberungsfeldzug die Nachschubwege verkürzt und neue Alpenübergänge geschaffen werden. Das wichtigste Ziel war, die östlichen und die westlichen Teile des Römischen Reichs besser zu verbinden. Der siegreiche Abschluss des Unternehmens wurde im Siegesdenkmal von La Turbie bei Monaco manifestiert, dessen Inschrift eine Aufzählung der unterworfenen Stämme enthält. Das Gebiet des heutigen Liechtenstein wurde Teil der Provinz Raetia et Vindelicia mit der Hauptstadt Augusta Vindelicorum (Augsburg, D). Die Provinz umfasste das von Rätern und Kelten besiedelte Gebiet vom Alpenvorland zwischen Bodensee und Inn bis zu den westlichen oberitalischen Seen und etwa vom St. Gotthard bis zum Brenner.
Die römischen Vorstösse gegen die Germanen hatten wechselhaften Erfolg. Nach dem pannonischen Aufstand und der Niederlage des Varro 9 n.Chr. im Teutoburger Wald stellte Tiberius 14 n.Chr. die Eroberungsversuche ins freie Germanien ein. Rhein und Donau wurden zur Reichsgrenze.
16/17 n.Chr. wurde das Legionslager Vindonissa (Windisch, AG) gegründet. Die Tatsache, dass in der Provinz Raetia et Vindelicia kein weiteres bekannt ist, lässt auf relativ friedliche Verhältnisse in den neuen Provinzen schliessen. Im Lauf der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n.Chr. wurde die Donaulinie durch eine Kette von Kastellen gesichert.
Für Liechtenstein massgebende zivilisatorische und militärische Zentren waren Curia (Chur, GR) und Brigantium (Bregenz, Vorarlberg). Für die namensgeschichtliche Überlieferung von römischen Siedlungen und Strassenführungen ist neben dem Itinerarium Antonini aus dem 3. Jahrhundert v.a. die in einer Abschrift des 12./13. Jahrhunderts überlieferte Tabula Peutingeriana aus demselben Zeitraum wichtig. In beiden Darstellungen sind Strassenzüge verzeichnet, die das Alpenrheintal mit Como verbinden: u.a. eine Route von Bregenz über den Septimer/Julier, eine Splügenroute und ein Weg, der über den San Bernardino oder den Lukmanier führte. Diese Passstrassen waren in den meisten Fällen Saumwege, während die Strassen in den Talsohlen einfache Strassenbetten oder geschotterte Strassenzüge waren. In Schaanwald und Schaan sind Reste von römischen Strassen entdeckt worden; die Hauptstrasse zog sich am östlichen Rheintalrand entlang. Von Truppenbewegungen zeugen zwei in Schaan am Wisseler gefundene römische Legionärshelme aus dem 1. Jahrhundert n.Chr. Strassenverbindungen waren wichtig für den Handel. Der intensive Güter- und Know-how-Transfer aus dem Süden bewirkte eine rasche Annahme der römischen Kultur durch die einheimische Bevölkerung. Römische Lebensgewohnheiten, Glaubensvorstellungen und Grabsitten breiteten sich aus, das Siedlungswesen wurde romanisiert (u.a. gemörtelte Steinmauern, Wasserbewirtschaftung, Heizsysteme), neue Kulturpflanzen wie die Weinrebe und die Walnuss wurden eingeführt. Erstmals war das Gebiet in ein grosses Reich mit ausgereifter Verwaltung eingebunden. Folgen waren u.a. Kontakte mit der Schriftlichkeit und der Amtssprache Latein; aus dem Vulgärlatein entwickelte sich das bis ins Hochmittelalter vorherrschende Rätoromanische (→Sprache).
Hauptimportartikel waren römische Töpfereiprodukte, allen voran die sogenannte Terra sigillata, des weiteren Lavezgefässe aus Speckstein, aber auch Kunsthandwerk und Lebensmittel wie Wein, Öl, Südfrüchte, Fische, Gewürze u.a. aus der Mittelmeerregion und dem Orient. Umgekehrt wurde Wolle, Wachs, Pech, Kienholz, Bauholz und anderes nach Italien gebracht.
Eine einheitlich grössere römische Siedlung konnte bislang in Liechtenstein nicht sicher lokalisiert werden; allerdings wird der auf der Tabula Peutingeriana eingetragene vicus (Dorf) Magia aufgrund zahlreicher Siedlungsspuren in Balzers vermutet. Bekannt ist zudem eine aus Herrenhaus, Badeanlage und Wirtschaftsgebäuden bestehende römische Villenanlage in Nendeln; ihre Belegungsdauer reichte von der Mitte des 2. Jahrhunderts n.Chr. bis Ende des 3. Jahrhunderts n.Chr. (→römische Villen). In Schaanwald konnte eine römische Badeanlage lokalisiert werden, die zu einem grösseren Gebäudekomplex gehört haben dürfte; die Belegungsdauer erstreckte sich von 100 n.Chr. bis ins 3./4. Jahrhundert
n.Chr. In Mauren wurde ein Teil eines mittels römischen Hypokaustanlage beheizbaren Raums dokumentiert. Reste römischer Häuser sind auch in Triesen nachgewiesen. Römische Architekturreste und Kleinfunde, die auf Besiedlung hinweisen, befinden sich in Schaan, evtl. auch in Eschen. Zudem belegen zahlreiche Münzfunde und vereinzelte Kleinfunde eine Besiedlung und Begehung des Lands in römischer Zeit. Zu erwähnen sind v.a. die Münzreihe vom Lutzengüetle auf dem Eschnerberg, die Münzfunde vom Burghügel Gutenberg bei Balzers und ein Depotfund aus dem Ruggeller Riet.
Es kann davon ausgegangen werden, dass Rätien bis zum Ende des 2. Jahrhunderts n.Chr. eine friedliche Entwicklung erfuhr. Reiche archäologische Funde belegen dies v.a. im Norden der Provinz. Zur Regierungszeit Kaiser Marc Aurels (161–180) brachen die Markomannen über die nördlichen Grenzen ein und beendeten die relativ friedliche Periode. Im Nordosten und Osten jenseits der römischen Grenze waren Völkerschaften (Germanen, Skythen, Kelten, Daker) in Bewegung geraten, die nach neuem Land suchten. Von den neuen, zur Abwehr ausgehobenen römischen Legionen wurde eine in Castra Regina (Regensburg, D) stationiert. Unter Kaiser Septimius Severus (193–211) wurde das Strassennetz verbessert, um die Mobilität des Heers zu verbessern.
Das 3. Jahrhundert war charakterisiert durch die Abwehr der seit dem Jahrhundertbeginn häufigen Einfälle der Alamannen, die man auch durch Vertragsschlüsse in Schach zu halten suchte. Der im 1. Jahrhundert n.Chr. entstandene obergermanische-rätische Limes (Grenzbefestigung gegen das freie Germanien) wurde ab 260 n.Chr. an die Flüsse Rhein, Donau und Iller zurückgenommen. Unruhige Zeiten wie diese können durch Zerstörungsspuren an Siedlungen und militärischen Anlagen nachgewiesen werden, aber auch durch vergrabene Horte und Verstecke wertvoller Güter oder Münzschätze, welche die Bevölkerung vor den einfallenden Horden schützen wollte. Die Menschen suchten hinter Kastellmauern oder in abgelegenen Fluchtburgen Zuflucht. Eine solche Fluchtburg wurde auf dem Krüppel oberhalb Schaan errichtet. Münzreihen lassen zwei Belegungsphasen vermuten, eine erste Anlage um 260/270 n.Chr., eine zweite in der Mitte des 4. Jahrhunderts. Nicht völlig gesichert sind die Hinweise auf solche kurzfristigen Siedlungen auf dem Lutzengüetlekopf (Gemeinde Gamprin) und auf dem Burghügel Gutenberg.
Unter Kaiser Diokletian (284–305) fand eine Reichsreform statt, die eine Vereinfachung und Dezentralisierung der staatlichen Bereiche zum Ziel hatte. Rätien wurde um die Mitte des 4. Jahrhunderts in eine westliche, u.a. das heutige Liechtenstein umfassende Provinz Raetia prima mit der Hauptstadt Curia (Chur) und in eine nordöstliche Provinz Raetia Secunda mit der Hauptstadt Augusta Vindelicorum (Augsburg) aufgeteilt. Sie gehörten zum Verwaltungsbereich von Mediolanum (Mailand) und waren Teil des weströmischen Reichs.
Im Zug von massiven Bedrohungen an den nördlichen Grenzen liess Kaiser Valentinian I. (364–375) Grenzbefestigungen erneuern und im Hinterland Kastelle und Wachttürme erbauen. In diesem Zusammenhang dürfte auch das römische Kastell in Schaan (zweite Hälfte 4. Jahrhundert) entstanden sein, das eine Sperrfunktion und eine Schutzfunktion für die Bevölkerung ausübte. Nicht nur die germanischen Einfälle im Zug der Völkerwanderung, auch interne Streitigkeiten der um Macht kämpfenden Kaiser, Gegenkaiser und Usurpatoren erschütterten das römische Reich. Nach dem Tod Kaiser Theodosius’ (395) kam es zur Zweiteilung in das oströmische und das weströmische Reich. Erstes Zeugnis der Christianisierung der Region ist eine innerhalb der Mauern des Schaaner Kastells errichtete Saalkirche mit Taufbecken aus dem 5. Jahrhundert (heute Kapelle St. Peter).
Im 5. Jahrhundert wurde der Norden Rätiens zunehmend von Alamannen besiedelt. 402 zog der römische Heermeister Stilicho die hier stationierten römischen Truppen zur Verteidigung gegen die Westgoten nach Italien ab; zur Grenzsicherung wurden mit den Germanen Verträge geschlossen. Die unmittelbare Herrschaft Roms über den Bodenseeraum und das Alpenrheintal war damit beendet. Nominell gehörte das Gebiet noch einige Jahrzehnte zum weströmischen Reich, bis zu dessen Ende 476 n.Chr. Rom verlor weitgehend die Gewalt über die Provinzen nördlich der Alpen. Nach dem Ende der ostgotischen Herrschaft (Tod Theoderichs 526) gelangte Rätien in den Machtbereich der Franken (→Frankenreich) und löste sich damit endgültig vom römischen Imperium.
Literatur
- Im Schutze mächtiger Mauern. Spätrömische Kastelle im Bodenseeraum, Norbert Hasler et al. (Hg.), Vaduz 2005.
- Rudolf Degen: Die raetischen Provinzen des römischen Imperiums, in: Beiträge zur Raetia Romana. Voraussetzungen und Folgen der Eingliederung Rätiens ins Römische Reich, hg. von der Historisch-Antiquarischen Gesellschaft von Graubünden, Chur 1987, S. 1–43.
- Franz Schön: Der Beginn der römischen Herrschaft in Rätien, Sigmaringen 1986.
- Bernhard Overbeck: Geschichte des Alpenrheintals in römischer Zeit. Auf Grund der archäologischen Zeugnisse, 2 Bände, München 1973–1982.
- Archäologie im Fürstentum Liechtenstein, hg. von Rudolf Degen, Basel 1978 (= Helvetia Archaeologica 9, H. 34/36), S. 73–256.
- Georg Malin: Das Gebiet Liechtensteins unter römischer Herrschaft, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 58 (1958), S. 5–89.
Zitierweise
<<Autor>>, «Römerzeit», Stand: 31.12.2011, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), URL: <<URL>>, abgerufen am 19.4.2025.