
Rindviehhaltung
Autor: Bernd Marquardt | Stand: 31.12.2011
Das Hausrind wurde um 9000 v.Chr. in Vorderasien aus dem Wildrind (Bos taurus) domestiziert. Ziel der Rindviehhaltung ist die Gewinnung von Fleisch und Milch als Nahrungsmittel sowie von Rinderhäuten als Rohstoff für die Lederverarbeitung. Bevor in der Landwirtschaft Motorkraftfahrzeuge zum Einsatz kamen, hatten Rinder als Zug- und Transporttiere grosse Bedeutung.
Die Rindviehhaltung bis ins frühe 19. Jahrhundert
Das Hausrind ist seit dem 5. Jahrtausend v.Chr. im liechtensteinischen Raum heimisch. Die germanischen Stammesrechte des Frühmittelalters spiegelten die Bedeutung der Rindviehaltung insofern wider, als Sühneleistungen in Rindern ausgewiesen wurden. Seit dem hochmittelalterlichen Landesausbau war die liechtensteinische Rindviehhaltung im Rahmen der herrschaftlich-genossenschaftlichen Agrarverfassung in ein komplexes Bodennutzungssystem eingebunden.
Aufgrund der topografischen Verhältnisse Liechtensteins, die durch eine starke vertikale Gliederung und damit zusammenhängend durch starke Klima- und Vegetationskontraste auf engstem Raum gekennzeichnet sind, bildete sich als Bodennutzungssystem die Alpwirtschaft heraus. Diese bestand in einer optimierten Verteilung des Weidelands auf mehrere Höhenstufen, die in zyklischer Abfolge genutzt wurden. Den Frühweiden im Tal folgten auf mittlerer Höhe die Maiensässe sowie in der dritten Stufe die während der Sommermonate bestossenen Hochweiden. Als letzter Schritt des Jahreszeitenzyklus folgte die Überwinterung im Stall mit dem zuvor von den Mähwiesen, der vierten wichtigen Nutzlandfläche der Rindviehhaltung, gewonnenen Heu. Das Weideland war gemeinschaftlich genutztes genossenschaftliches Gesamteigentum. Ebenfalls als gemeinschaftlich genutztes Weideland dienten ausserhalb der Vegetationszeit im Rahmen des Atzungsrechts die während der übrigen Zeit des Jahres individuell genutzten Anbauflächen. Hingegen standen die Tiere ganz im Eigentum der davon lebenden bäuerlichen Haushalte.
Primär hatte die Rindviehhaltung eine Selbstversorgungsfunktion. Das primäre Versorgungsinteresse lag in der Milchwirtschaft, sekundär ging es auch um die Fleischversorgung, im Übrigen um Zug- und Transportleistungen. Die mitteleuropäische Agrarkultur kombinierte Rindviehhaltung und Getreidewirtschaft, doch hatte in den nördlichen Alpen inklusive Liechtensteins die Verschlechterung des Klimas auf dem Höhepunkt der «Kleinen Eiszeit» im 16. Jahrhundert ein notgedrungenes Übergewicht der weniger kälteempfindlichen Rindviehhaltung zur Folge. Ein weiterer fördernder Faktor für die Rindviehhaltung war seit dem ausgehenden Mittelalter die zunehmende Bedeutung des Viehhandels, bei welchem Rindvieh ein besonders begehrtes Handelsgut war.
Das zentrale Problem der Rindviehhaltung lag in der Optimierung der Milch- und Fleischproduktion, ohne zugleich die ökologische Tragfähigkeit der Weiden und Winterfutterwiesen zu überschreiten. Die Gemeinden definierten für die Nutzung der einzelnen Alpweiden Obergrenzen: die pro Hof zulässige Stückzahl des Viehs wurde an die Überwinterungskapazität gekoppelt, also an die Menge Futterheu, welche dem der Hausgemeinschaft zugeordneten Wiesenpotenzial entnommen werden konnte («Überwinterungsregel»). Die Abschätzung der Überwinterungskapazität hing von zwei Faktoren ab, nämlich dem Futterwuchs während des Sommers und den Erfahrungswerten über die Härte und Länge des Winters. Erwies sich ein Winter als überlang, so waren halb oder ganz verhungerte Kühe die Folge.
Die Rindviehhaltung seit dem frühen 19. Jahrhundert
Der Umbau der Agrarverfassung während des frühen 19. Jahrhunderts im physiokratisch-liberalen Sinn liess die Rindviehhaltung nicht unberührt. Mit der Aufteilung und Überführung gemeinschaftlich genutzten Weidelands ins Privateigentum wurde die Rindviehhaltung stärker individualisiert. Eine weitere Individualisierung im Bereich der Rindviehhaltung brachte die Aufhebung des Atzungsrechts ab 1843.
Die Aufteilung gemeinschaftlich genutzter Weiden sowie die Aufhebung des Atzungsrechts schränkten die Rindviehhaltung zunächst ein. Weil es für den einzelnen Viehbesitzer sehr umständlich war, sein Vieh auf seine privaten Weiden zu treiben, wurde das für die Rindviehhaltung zur Verfügung stehende Weideland vermindert. Er war gezwungen, seine Privatgründe besser zu bewirtschaften, was langfristig zu einer beträchtlichen Erweiterung des Anbaus von Futtermitteln – besonders Klee – und damit zu einer Verbesserung der Nahrungsgrundlage für das Vieh führte. Des Weiteren erlaubte der Wegfall des Atzungsrechts eine zweite Heuernte. Dies alles machte eine ganzjährige Stallfütterung möglich.
Seit dem frühen 19. Jahrhundert bemühte sich die Obrigkeit um eine Verbesserung der Rindviehzucht. Einen ersten umfassenden Massnahmenkatalog hierzu enthält die Verordnung zur Veredlung der Viehzucht von 1845. Die Zuchtbemühungen führten im Lauf des 19. Jahrhunderts zur Ersetzung des als nicht mehr adäquat angesehenen kleinwüchsigen, aber milchstarken Montafoner Subsistenzviehs durch das grössere schweizerische Braunvieh.
1906 schlossen sich 182 Viehbesitzer zu einer landwirtschaftlichen Zuchtgenossenschaft, der Herdebuchgesellschaft, zusammen. An ihre Stelle traten 1927 örtliche Viehzuchtgenossenschaften, die sich zum Verband Liechtensteinischer Braunviehzuchtgenossenschaften zusammenschlossen. Dieser trat 1940 dem Schweizerischen Braunviehzuchtverband bei. 1963 gehörten 76 % der Rindviehhalter mit 96 % des Kuhbestands dem Verband an.
Die Zuchtbemühungen führten zusammen mit der Verbesserung der Nahrungsgrundlage für das Vieh zu einer permanenten Steigerung der Milchleistung. Seit Mitte 19. Jahrhundert hat sich der mittlere Milchertrag einer Kuh von rund 5 l auf rund 20 l pro Tag erhöht. Nur wenig verändert hat sich der Rindviehbestand. Die Zahl der Rindviehhalter ist hingegen im Zug des Strukturwandels in der Landwirtschaft massiv geschrumpft.
Archive
- Bildarchiv Amt für Kultur, Abteilung Archäologie.
Literatur
- Christoph Maria Merki: Wirtschaftswunder Liechtenstein. Die rasche Modernisierung einer kleinen Volkswirtschaft im 20. Jahrhundert, Zürich/Triesen 2007, S. 58–61.
- Bernd Marquart: Umwelt und Recht in Mitteleuropa. Von den grossen Rodungen des Hochmittelalters bis in 21. Jahrhundert, Zürich 2003 (=Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte, Bd. 51).
- Christoph Tschanz: «... und ob aber dero vÿch och in die bemelt alpelin giengen ...». Spätmittelalterliche Weidewirtschaft im Gebiet von Liechtenstein im Wandel, in: Bausteine zur liechtensteinischen Geschichte. Studien und studentische Forschungsbeiträge, hg. von Arthur Brunhart, Bd. 1: Vaduz und Schellenberg im Mittelalter, Zürich 1999, S. 337–369.
- Rolf P. Sieferle: Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt, München 1997.
- Jon Mathieu: Eine Agrargeschichte der inneren Alpen. Graubünden, Tessin, Wallis. 1500-1800, Zürich 1992.
- Alois Ospelt: Wirtschaftsgeschichte des Fürstentums Liechtenstein im 19. Jahrhundert. Von den napoleonischen Kriegen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 72 (1972), S. 111–125, 137–141, 176–178, 182–188.
- Meinrad Lingg: Die liechtensteinische Landwirtschaft, in: St. Galler Bauer, Jg. 51 (1964), S. 1097–1112, bes. 1101–1104, 1105f.
- Franz Beck: Viehzucht, in: Liechtensteinische Landes-Ausstellung Vaduz, Ausstellungskatalog Vaduz, Vaduz 1934, S. 43–48.
Zitierweise
<<Autor>>, «Rindviehhaltung», Stand: 31.12.2011, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), URL: <<URL>>, abgerufen am 8.2.2025.