Rotter-Entführung

Autor: Redaktion | Stand: 16.8.2021

Die 1931 in Mauren eingebürgerten deutschen Theaterdirektoren Alfred und Fritz Schaie, die sich mit Künstlernamen Rotter nannten, führten in Berlin mehrere bekannte Theaterbühnen. Sie feierten u.a. mit Operetten legendäre Erfolge, gingen jedoch im Januar 1933 aufgrund unter Druck abgetretener Billetterlöse und verweigerter Überbrückungskredite Konkurs. Noch im Januar 1933 – bevor am 30. des Monats die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland übernahmen – zogen sich Fritz und Alfred Rotter zusammen mit der Ehefrau des Letzteren nach Liechtenstein zurück. Daraufhin brach in Deutschland eine breite Pressekampagne sowohl gegen die jüdischen Rotter wie gegen Liechtenstein und dessen Einbürgerungsrecht (→Finanzeinbürgerung) los. Die deutsche Presse warf den Rotter vor, der Bankrott sei betrügerisch erfolgt, nannte Phantasiesummen, die sie angeblich ins Ausland verschoben hätten, und forderte ihre Auslieferung – anders als die deutsche Justiz, die dies für aussichtslos hielt.

Angestachelt durch die antisemitisch gefärbte Pressekampagne, beschlossen im März 1933 die vier liechtensteinischen Nationalsozialisten Rudolf Schädler, Franz Roeckle, Peter Rheinberger (1913–1997) und Eugen Frommelt (1907–1970), Alfred und Fritz Rotter nach Deutschland zu entführen und der Justiz zu übergeben. Diese Aktion sollte zugleich den Auftakt zur Gründung einer liechtensteinischen nationalsozialistischen Bewegung bilden (→Nationalsozialismus). Am 5.4.1933 lockte Schädler das Ehepaar Alfred und Gertrud Rotter sowie Fritz Rotter und dessen Begleiterin Julie Wolff ins Alpenkurhaus «Gaflei», wo die Attentäter, zu denen auch fünf von Rheinberger für das Vorhaben gewonnene Deutsche gehörten, sie zu überwältigen versuchten. Der Anschlag misslang, aber die zu Fuss flüchtenden Alfred und Gertrud Rotter stürzten in einem nahen Tobel zu Tode. Julie Wolff wurde schwer verletzt. Der nach dem Sprung aus einem der Entführerautos ebenfalls verletzte Fritz Rotter konnte die liechtensteinische Regierung verständigen. Rheinberger und die fünf Deutschen wurden auf der Flucht in Götzis (Vorarlberg) gefasst, die anderen drei Täter in Liechtenstein verhaftet.

Am 8.6.1933 wurden die vier liechtensteinischen Täter in einem viel beachteten öffentlichen Kriminalprozess wegen versuchten Menschenraubs zu milden Kerkerstrafen zwischen vier Monaten und einem Jahr verurteilt. Im Prozess wurden aus Rücksicht auf Deutschland die politischen Hintergründe der Tat ausgeblendet. Der Zürcher Rechtsanwalt Wladimir Rosenbaum durfte sein Plädoyer, in dem er das NS-Gewaltsystem kritisierte, nicht verlesen. Freunde und Bekannte der Rotter-Attentäter hatten im Land vorher über 700 Unterschriften für eine Begnadigung gesammelt. In Konstanz wurden vier der deutschen Mittäter zu drei Monaten Haft verurteilt.

Im Oktober 1933 fand auf Wunsch der liechtensteinischen Regierung eine Aussprache mit deutschen Behördenvertretern statt. Die Regierung erreichte das Ende der deutschen Presseangriffe, musste aber der vorzeitigen Entlassung der noch inhaftierten Schädler und Rheinberger zustimmen. Nach der Rotter-Entführung wurden die Finanzeinbürgerungen vorerst gestoppt. 1934 trat ein neues Bürgerrechtsgesetz in Kraft, das die ausländische Kritik an der liechtensteinischen Einbürgerungspraxis berücksichtigte.

Die Rotter-Entführung mit ihren Weiterungen wurde als «Rotteraffäre» bezeichnet, worin Kritiker eine Verharmlosung sahen. Die Rotter-Entführung wirkte als Schock in Liechtenstein; als eine Folge unterblieb die Gründung einer einheimischen NS-Partei bis 1938. «Rotter» wurde in Liechtenstein zu einem Topos, zum Inbegriff antisemitischer und nationalsozialistischer Gewalt.

Literatur

  • Peter Kamber: Fritz und Alfred Rotter. Ein Leben zwischen Theaterglanz und Tod im Exil, Leipzig 2020, S. 342–460.
  • «Jener furchtbare 5. April 1933»: Pogrom in Liechtenstein, hg. und mit einer Dokumentensammlung versehen von Hansjörg Quaderer, mit einer Graphic Novel von Hannes Binder, Zürich 2013.
  • Nicole Schwalbach: Bürgerrecht als Wirtschaftsfaktor. Normen und Praxis der Finanzeinbürgerung in Liechtenstein 1919–1955, hg. vom Historischen Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Zürich 2012, S. 54f., 91–93.
  • Peter Kamber: Zum Zusammenbruch des Theaterkonzerns der Rotter und zum weiteren Schicksal Fritz Rotters. Neue Forschungsergebnisse, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 106 (2007), S. 73–100.
  • Ursina Jud, Klaus Biedermann, Peter Kamber, Pius Heeb, Norbert Haas, Hansjörg Quaderer: Zur Erstveröffentlichung des Rosenbaum-Plädoyers. Das Verbrechen an den Rotter in Liechtenstein 1933, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 103 (2004), S. 1–95.
  • Peter Geiger: Krisenzeit. Liechtenstein in den Dreissigerjahren 1928–1939, Vaduz/Zürich 1997, 22000, Bd. 1, S. 342–358, Bd. 2, S. 51–60.

Zitierweise

<<Autor>>, «Rotter-Entführung», Stand: 16.8.2021, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), URL: <<URL>>, abgerufen am 15.2.2025.

Medien

Das Alphotel Gaflei: der Ort des Überfalls auf Fritz, Gertrud und Alfred Rotter sowie Julie Wolff, Postkarte von 1932 (© Archiv Henschel-Verlag, Leipzig).
«Rotter Mörder» und «Landesverräter», «Heil Hitler» und Hakenkreuz: Graffiti am 1956 gebauten Wohnhaus von Rudolf Schädler auf Masescha (Gemeinde Triesenberg), angebracht 23 Jahre nach dem Entführungsversuch (Foto: LI LA, B 26/011/001, Fotograf unbekannt). Die frühere Interpretation des Fotos als Wandschreiberei am Gefängnis in Vaduz, wo die Rotter-Attentäter 1933 eine Haftstrafe verbüssten, erwies sich als unzutreffend. Ob alle Schriftzüge und Symbole von denselben Personen stammten, die Schädler als Rotter-Entführer und Nationalsozialist blossstellen wollten, oder ob das Hakenkreuz und das «Heil Hitler» nachträglich von anderen, pro-nazistischen Personen angebracht wurden, ist unklar. Jedenfalls bewegte und polarisierte die Rotter-Entführung noch in den 1950er Jahren.
Am 31. August 2022 wurden im Vaduzer Städtli zwei «Stolpersteine» im Gedenken an Gertrud und Alfred Rotter-Schaie verlegt (Foto: Fabian Frommelt). Die auf Initiative des Künstlers Gunter Demnig verlegten Stolpersteine verbinden mittlerweile 30 europäische Länder im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus.