Sozialstaat

Autorin: Julia Frick | Stand: 31.12.2011

Der Sozialstaat bezweckt in einer auf Rechtstaatlichkeit, sozialer Marktwirtschaft, Privateigentum und sozialem Ausgleich beruhenden Gesellschaftsordnung die Förderung der allgemeinen Wohlfahrt, die Wahrung von sozialer Gerechtigkeit, sozialer Sicherheit und Chancengleichheit. Der Sozialstaat realisierte sich in verschiedenen Modellen, einerseits durch die Sozialversicherungen und andererseits durch das System wohlfahrtstaatlicher Prägung oder durch eine Kombination der beiden Ansätze wie in Liechtenstein.

Den Kern des liechtensteinischen Sozialstaats bilden a) die Sozialversicherung, b) die Sozialhilfe, c) das Ausbildungs- und Gesundheitsrecht und d) das Arbeits- und Mietrecht. Der Sozialstaat federt (a) die materiellen Risiken bei Unfall, Krankheit, Alter und →Arbeitslosigkeit ab, garantiert (b) durch das Sozialhilferecht einen Mindestlebensstandard mittels materieller Leistungen und die Erbringung notwendiger Hilfen in Form von Dienstleistungen, sorgt (c) für ein allgemein zugängliches Schulwesen und Gesundheitswesen sowie (d) für ein soziales Arbeits- und Mietrecht. Die Finanzierung von Sozialleistungen durch progressive Steuern (Sozialhilfe) und einkommensabhängige Prämien (AHV, IV, ALV) kommt einer Umverteilung primärer Einkommen gleich, was die sozialen Gegensätze mildert und politisch und gesellschaftlich stabilisierend wirkt.

Entstanden ist der Sozialstaat im Zusammenhang mit der Ablösung von Resten feudaler und absolutistischer Herrschaftsstrukturen (wie dem Gnadenprinzip der obrigkeitsstaatlichen-paternalistischen Fürsorge) und der Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise. Im Kontext von Industrialisierung und Lohnarbeit galten erste wohlfahrtsstaatliche Massnahmen als Schutzmechanismen in sozialen Notlagen. Durch die Arbeiterbewegung sowie die Aufnahme des Rechts auf soziale Sicherheit in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) dehnte sich die Sozialstaatsidee v.a. auf die westliche Welt aus.

In Liechtenstein befassten sich erste rudimentäre wohlfahrtsstaatliche Massnahmen im 19. Jahrhundert mit der Armenfürsorge (Gemeindegesetz 1864, Armengesetz 1869) und dem Arbeitsrecht (z.B. Verbot der Kinderarbeit in der Gewerbeordnung von 1865). Die ersten betrieblichen Krankenkassen entstanden 1870–91 noch ohne gesetzliche Verpflichtung. Erst die Gewerbeordnungen von 1910 und 1915 enthielten staatliche Vorschriften über den Sozialversicherungsschutz in der Privatwirtschaft. Die Verfassung von 1921 beauftragte den Staat mit der «Förderung der gesamten Volkswohlfahrt» und dem Ausbau verschiedener sozialstaatlicher Leistungen. Zwar wurden 1931 und 1932 Gesetze über die Unfallversicherung erlassen, der eigentliche Auf- und Ausbau des Sozialstaats erfolgte in Liechtenstein jedoch erst in der Hochkonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg. Wichtige Schritte waren die obligatorische Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) 1954, die Familienausgleichskasse (FAK) 1958 und die Invalidenversicherung (IV) 1960, das Krankenversicherungsobligatorium für Arbeitnehmer 1962 und die Schaffung des Fürsorgeamts 1966 (seit 1991 Amt für Soziale Dienste). Den universellsten Ausdruck fand der Sozialstaatsgedanke im Sozialhilfegesetz von 1966, worin ein nicht verwirkbares Grundrecht auf ein menschenwürdiges Dasein in materieller sowie in persönlicher und sozialer Hinsicht eingeräumt wird. Es folgten die Arbeitslosenversicherung 1969, das Jugendgesetz 1970 (→Jugend und Jugendpolitik), das Ehegesetz 1974 (→Eherecht), die Mutterschaftszulagen 1982 und das Gesetz über das Gesundheitswesen 1985.

Der heutige Sozialstaat beruht auf den vier Säulen Sozialversicherung, Sozialer Dienst (Sozialhilfe), Präventivmedizin und Gesundheit sowie sonstigen Leistungen und Beiträgen; zu Letzteren gehören z.B. Stipendien, Wohnbauförderung (seit 1958) und Mietbeihilfen (seit 2001). Insgesamt gibt es 26 verschiedene staatliche Sozialleistungen. Beinahe drei Viertel des Sozialleistungsaufwands werden verwendet, um die Risiken Alter, Krankheit und Invalidität abzudecken. Der Sozialstaat wird durch Prämien, durch staatliche Beitragsleistungen sowie durch direkte staatliche Leistungen finanziert. Die demografische Verschiebung zugunsten älterer Menschen, steigendes Lebensalter, Arbeitslosigkeit, wachsende Gesundheitskosten, steigende Ansprüche und die Zunahme der Invaliditätsrenten stellen den Sozialstaat vor neue Herausforderungen. So stiegen die Staatsbeiträge für die soziale Wohlfahrt von 1994 bis 2004 um 140 % auf 181,6 Mio. Fr. (rund 23 % der Staatsausgaben).

Literatur

  • Isabel Frommelt: Analyse Sozialstaat Liechtenstein. Basierend auf der Entwicklung der Sozialausgaben des Landes 1995 bis 2004, hg. von der Regierung des Fürstentums Liechtenstein, Vaduz 2005.
  • Wörterbuch der Sozialpolitik, hg. von Erwin Carigiet, Ueli Mäder und Jean-Michel Bonvin, Zürich 2003.
  • Sozialstaat in Europa. Geschichte - Entwicklung Perspektiven, hg. von Katrin Kraus und Thomas Geisen, Wiesbaden 2001.
  • Peter Geiger: Krisenzeit. Liechtenstein in den Dreissigerjahren 1928–1939, Bd. 1, Vaduz/Zürich 1997, 22000, S. 285–293, 485–594.
  • Marcus Büchel: Soziales, in: LieLex. Ein Nachschlagewerk zu Liechtenstein von Ausländer bis Zeitläufte, hg. von der LGT Bank in Liechtenstein, Konzept: Robert Allgäuer at al., Redaktion: Pio Schurti, Werner Ospelt, Vaduz 1996, S. 113–116.
  • Hilmar Hoch: Geschichte des Liechtensteinischen Sozialversicherungsrechts, hg. von der Liechtensteinischen Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), Vaduz 1991, S. 7–24.
  • Paul Vogt: Brücken zur Vergangenheit. Ein Text- und Arbeitsbuch zur liechtensteinischen Geschichte. 17. bis 19. Jahrhundert, hg. vom Schulamt des Fürstentums Liechtenstein, Vaduz 1990, S. 225.

Zitierweise

<<Autor>>, «Sozialstaat», Stand: 31.12.2011, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), URL: <<URL>>, abgerufen am 10.2.2025.