Sozialversicherung

Autoren: Hilmar Hoch, Walter Kaufmann | Stand: 31.12.2011

Die Sozialversicherung mit ihren meist obligatorischen Zweigversicherungen deckt den Einkommensausfall und z.T. die Heilungs- und Pflegekosten besonders bei den sozialen Risiken Alter, Krankheit, Unfall, Invalidität und Arbeitslosigkeit. Beim Tod des Versicherten können die Leistungen den Hinterlassenen (Verwitwete, Waisen) zustehen. Die Sozialversicherung ist zentraler Pfeiler des liechtensteinischen Sozialstaats.

Die Anfänge der liechtensteinischen Sozialversicherung in den 1870er Jahren hängen – abgesehen von der älteren Pensionsversicherung für Beamte – mit der um 1860 einsetzenden Industrialisierung zusammen. Der Aufbau eines bescheidenen, freiwilligen Unfall- und Krankenversicherungsschutzes blieb bis um die Jahrhundertwende ganz auf die Fabrikarbeiter beschränkt. Erst im Gewerbegesetz von 1910 wurden staatliche Vorschriften über den Sozialversicherungsschutz erlassen. Diese sahen bei der Krankenversicherung ein generelles und bei der Unfallversicherung ein weitgehendes Obligatorium für Arbeitnehmer vor. Doch schon die Gewerbegesetznovelle von 1915 schwächte diese fortschrittliche Regelung wieder ab.

Die Verfassung von 1921 enthielt eine Sozialversicherungsbestimmung (Art. 26), wonach der Staat das Kranken-, Alters-, Invaliden- und Brandversicherungswesen unterstützt und fördert. Die in der Zwischenkriegszeit von der Regierung verfolgten Pläne einer umfassenden Sozialversicherungsgesetzgebung verliefen aber erfolglos (Projekte von Hermann Renfer 1922 und der Schweizerischen Rentenanstalt 1938). Die Einführung einer Arbeitslosenversicherung scheiterte 1931, jedoch wurde 1931/32 die Unfallversicherung ausgebaut. Im Zweiten Weltkrieg erhielten bedürftige Familien als staatliche Kinderhilfe Gutscheine für Kleider und Lebensmittel.

Erst in der Hochkonjunktur der Nachkriegszeit kam es zum Auf- und Ausbau sämtlicher Zweige der sozialen Sicherheit, wobei das liechtensteinische Sozialversicherungsrecht dem Vorbild der Schweiz nachempfunden ist. Der wichtigste Schritt erfolgte 1954 mit der Einführung einer für die ganze Bevölkerung obligatorischen Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV). 1958 wurde die Familienausgleichskasse (FAK) als generelle staatliche Familienbeihilfe mit einem Obligatorium für Arbeitnehmer geschaffen. 1960 folgte die Invalidenversicherung (IV), die in erster Linie die Eingliederung ins Erwerbsleben bezweckt; sind solche Massnahmen erfolglos oder aussichtslos, werden Renten ausgerichtet. Bei der Krankenversicherung wurde das Obligatorium bis 1962 sukzessive auf alle (im Inland wohnhaften) Arbeitnehmer ausgedehnt. Daneben kam es zu einem stetigen Ausbau der freiwilligen Krankenversicherung. Bei der Einführung eines umfassenden Obligatoriums 1972 waren schon fast 90 % der Bevölkerung gegen Krankheit versichert. Die 1969 geschaffene Arbeitslosenversicherung kennt ein umfassendes Obligatorium für Arbeitnehmer.

Nach dem Mitte der 1960er Jahre in der Schweiz propagierten Drei-Säulen-Konzept sollten die Basisrenten der AHV/IV als 1. Säule zusammen mit der betrieblichen Personalvorsorge (BVG) als 2. Säule (→Pensionsversicherung) und der privaten Vorsorge als 3. Säule eine genügende Alterssicherung ermöglichen. Liechtenstein übernahm das Drei-Säulen-Konzept umgehend. Für allein auf die AHV/IV angewiesene Rentner wurden 1966 einkommensabhängige Ergänzungsleistungen geschaffen. Ein BVG-Obligatorium besteht seit 1989, grössere Betriebe hatten aber schon vorher Pensionskassen für ihre Arbeitnehmer. 1972 verankerte die Schweiz eine modifizierte Form des Drei-Säulen-Konzepts in der Verfassung. Danach sollten schon die AHV/IV-Renten das Existenzminimum abdecken und die beiden anderen Säulen die Aufrechterhaltung der gewohnten Lebenshaltung im Alter ermöglichen. Die daraus resultierende, annähernde Verdoppelung der AHV/IV-Renten und damit implizit der Übergang zum modifizierten Drei-Säulen-Konzept wurde in Liechtenstein 1973 nachvollzogen.

Durch die rechtliche Gleichstellung von Mutterschaft und Krankheit besteht ein entsprechender Mutterschutz (Krankenpflege, -taggeld) bereits im Gesetz über die Krankenversicherung von 1971, seit 1982 ergänzt durch einkommensabhängige Mutterschaftszulagen. In Ermangelung einer AHV-Witwerrente für Männer wurden 1982 mit separatem Gesetz einkommensabhängige Witwerbeihilfen eingeführt, nach der Schaffung der AHV-Witwerrente 1997 jedoch wieder beseitigt. 1991 trat ein neues Unfallversicherungsgesetz in Kraft, das eine umfassende obligatorische Unfallversicherung (Betriebs-/Nichtbetriebsunfall) für alle Arbeitnehmer einführte.

Liechtenstein hat im Sozialversicherungsbereich mehrere – wegen des hohen ausländischen Wohnbevölkerungs- und Erwerbstätigenanteils wichtige – zwischenstaatliche Abkommen unterzeichnet, die besonders die Gleichbehandlung der Vertragsstaatsangehörigen, die gegenseitige Anrechnung der Versicherungszeiten und den Export der Leistungen regeln. Wichtig waren zunächst die Abkommen mit der Schweiz: Unfallversicherung (1932), AHV (1954), Invalidenversicherung (1964), Familienzulagen (1969), Arbeitslosenversicherung (1979), soziale Sicherheit (1989). Die AHV, IV und FAK betreffenden bilateralen Abkommen kamen 1968 mit Österreich, 1976 mit Italien und 1977 mit Deutschland zustande. 1981 folgte ein Arbeitslosenversicherungsabkommen mit Österreich. Der Notenwechsel mit den USA im Bereich AHV 1972 ist mit einem zwischenstaatlichen Abkommen nicht vergleichbar.

1980 trat das erste multilaterale Abkommen im Bereich AHV/IV mit liechtensteinischer Beteiligung in Kraft: das vierseitige Übereinkommen zwischen Österreich, Deutschland, der Schweiz und Liechtenstein. Seit dem Beitritt Liechtensteins zum EWR 1995 – zur EWR-Personenfreizügigkeit gehört auch der Bereich soziale Sicherheit – bestehen entsprechende Regelungen mit allen EWR-Staaten. Auch waren nun erstmals sämtliche Zweige der sozialen Sicherheit erfasst. Die im Rahmen des EWR übernommene «Verordnung (EWG) Nr. 1408/71» wird laufend angepasst, um mit den nationalen Gesetzen und den europäischen Tendenzen (neue Arbeitsformen, wachsende Mobilität der Arbeitenden und der Unternehmen) Schritt zu halten. Das liechtensteinisch-österreichische EWR-Ergänzungsabkommen dehnte 1998 die EWR-Grundsätze auf Nichtvertragsstaatsangehörige (sogenannte Drittausländer) aus. 2002 führten die EFTA-Staaten Island, Norwegen, Schweiz und Liechtenstein ebenfalls die Anwendung der Verordnung 1408/71 ein.

Die liechtensteinische Sozialversicherung trug in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts massgeblich zum sozialen Frieden bei. In den letzten Jahren setzte die Schere, die sich in bestimmten Sozialversicherungszweigen zwischen Aufwand und Ertrag öffnete, eine Diskussion um die Finanzier- und Reformierbarkeit des Sozialstaats in Gang.

Literatur

  • Isabel Frommelt: Analyse Sozialstaat Liechtenstein. Basierend auf der Entwicklung der Sozialausgaben des Landes 1995 bis 2004, hg. von der Regierung des Fürstentums Liechtenstein, Vaduz 2005.
  • Hilmar Hoch: Geschichte des Liechtensteinischen Sozialversicherungsrechts, hg. von der Liechtensteinischen Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), Vaduz 1991.

Zitierweise

<<Autor>>, «Sozialversicherung», Stand: 31.12.2011, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), URL: <<URL>>, abgerufen am 15.2.2025.