Textilproduktion und -verarbeitung

Autor: Patrick Sele | Stand: 31.12.2011

Textilien sind aus Fasern hergestellte Waren. Als Rohstoffe dienten ursprünglich einheimische, etwa aus den Gewerbepflanzen Flachs und Hanf gewonnene Naturfasern oder Schafwolle; später kamen dazu eingeführte Materialien wie Baumwolle, Seide, Jute oder Bastfasern und schliesslich industriell hergestellte Kunstfasern. Verarbeitungsstufen bei der Textilproduktion sind die Aufbereitung des Rohstoffs (Wäscherei, Kämmerei, Karderei, d.h. das Auflockern und Reinigen der Rohfasern), dessen Verarbeitung zu Garn (Spinnerei), die Verarbeitung des Garns zu Geweben (Zwirnerei, Weberei, Strickerei, Flechterei) und deren Veredlung (z.B. das Bleichen, Färben und Bedrucken der Gewebe sowie die Stickerei). Zur Textilverarbeitung gehören die Näherei und die Schneiderei.

Entwicklung bis 1852

Die ältesten Hinweise auf eine Textilproduktion und -verarbeitung im Gebiet Liechtensteins sind Spinnwirtelfunde aus jungsteinzeitlichen Fundstellen (z.B. Lutzengüetle). Das erste Gewebe hat sich als Abdruck auf einer bronzezeitlichen Keramikscherbe aus dem 14. Jahrhundert v.Chr. erhalten, die auf dem Malanser (Gemeinde Eschen) entdeckt worden ist. Weitere archäologische Funde von Nähnadeln, Spindeln, Tonspulen, Webgewichten usw. geben Aufschluss auf die Textilproduktion und -verarbeitung von der Bronze- über die Eisen- und Römerzeit bis ins Mittelalter.

Die Textilproduktion und -verarbeitung diente bis in die frühe Neuzeit weitgehend der Selbstversorgung. Die bäuerliche Bevölkerung verarbeitete Schafwolle, Flachs und Hanf für den eigenen Bedarf zu Kleidung. Entsprechend boten sich für die Entstehung einer gewerblichen Textilproduktion und - verarbeitung ungünstige Voraussetzungen. Dass eine Textilproduktion und - verarbeitung in Ansätzen vorhanden war, zeigt die Erwähnung von Schneidern und Näherinnen in einem 1651 von der gräflich-hohenemsischen Kanzlei in Vaduz erlassenen Mandat. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bemühte sich die Obrigkeit vergeblich, die Spinnerei und die Weberei als Gewerbe einzuführen.

Anstösse zu einer nicht mehr nur der Selbstversorgung dienenden Textilproduktion und - verarbeitung kamen von aussen. Von entscheidender Bedeutung war hierbei das Verlagssystem, bei dem die Rohstoffe im Auftrag von Textilunternehmern dezentral in Heimarbeit verarbeitet wurden. Sogenannte Fergger vermittelten gegen Provision die Arbeitsaufträge und lieferten die Endprodukte an die Unternehmer ab. In Liechtenstein ist das Verlagssystem erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nachweisbar. Die Textilunternehmer sassen in der Ostschweiz. Grössere Bedeutung erlangte das Verlagswesen durch die seit etwa 1840 aufkommende Heimstickerei, die zunächst als Handstickerei ausgeführt wurde. Seit den 1830er Jahren sind liechtensteinische Beschäftigte auch bei der Arbeit in Textilfabriken im benachbarten Vorarlberg bezeugt.

Entwicklung von 1852 bis 1919

Der 1852 mit Österreich geschlossene Zollvertrag bedeutete für die nach der Ostschweiz orientierte Heimstickerei eine Umstellung, da die neue Situation eine neue Regelung der Ein- und Ausfuhr von Stickereiwaren von der und in die Schweiz nötig machte. Grössere Probleme waren jedoch die ausländische Konkurrenz und besonders das amerikanische Krisenjahr 1857. Letzteres versetzte der Handstickerei einen furchtbaren Schlag, von dem sie sich nie wieder erholte; in Liechtenstein kam dieser Gewerbezweig zum Erliegen. Erst die Handmaschinenstickerei brachte seit den 1870er Jahren eine Wende: viele Leute bauten Stickereilokale und kauften Maschinen. Aufgrund des stark schwankenden Konjunkturverlaufs dieses Gewerbes war die Heimstickerei allerdings mit grossen wirtschaftlichen Risiken verbunden: Perioden der Überkonjunktur wechselten mit solchen tiefer und tiefster Depression ab. Tendenziell ging aber die Entwicklung aufwärts, was sich daran erkennen lässt, dass die Zahl der Stickmaschinen in Liechtenstein von 27 (1878/79) auf 184 (1910/12) stieg. Die Heimstickerei war in dieser Zeit die bedeutendste nichtlandwirtschaftliche Erwerbsquelle für die Bevölkerung.

Der Zollanschluss von 1852 öffnete den grossen österreichischen Wirtschaftsraum für liechtensteinische Waren. Dies ermunterte in den 1850er und 60er Jahren Kleinunternehmer aus Handel und Gewerbe in Vorarlberg und Liechtenstein zu Fabrikgründungen im Textilsektor, denen jedoch kein langfristiger Erfolg beschieden war. Es fehlten Durchsetzungskraft, Fachkenntnis und Beziehungen grösserer Fabrikanten.

Der erfolgreiche Aufbau einer Textilindustrie in Liechtenstein kam auf Initiative von Unternehmern aus der Schweiz zustande, die auf diese Weise die hohen Zollmauern des österreichischen Wirtschaftsraums umgehen wollten (→Industrialisierung). 1861 wurde als erste eigentliche Textilfabrik im Mühleholz eine Baumwollweberei errichtet. Es folgten eine Baumwollweberei (1863) in Triesen, eine weitere Baumwollweberei (1865) mit dazugehöriger Färberei (1867) im Möliholz und eine Spinnerei (1883) im Ebaholz in Vaduz. Die beiden Webereien im Möliholz gehörten ab 1884 zur Mechanischen Weberei Vaduz. Die Spinnerei in Vaduz und die Weberei in Triesen wurden 1905 in der Firma Jenny, Spoerry & Cie. zusammengefasst.

Auch in der Stickerei gab es Bestrebungen, neben der Heimstickerei eine fabrikmässige Produktion aufzubauen. Diese hatten jedoch keinen lang anhaltenden Erfolg. Eine 1879 gegründete Stickereifabrik in Eschen musste wegen schlechten Geschäftsgangs bereits 1884 geschlossen werden.

Die liechtensteinische Textilindustrie erlebte bis zum Ersten Weltkrieg ein stürmisches Wachstum: 1861 beschäftigte sie erst 21 Personen, 1912 aber 677 Personen. 1874–87 stieg die Zahl der Webstühle in der Weberei in Triesen von 220 auf 484, 1887–90 die Spindelzahl in der Spinnerei in Vaduz von 13 080 auf 25 712.

Doch nicht nur die industrielle, sondern auch die gewerbliche Textilproduktion und -verarbeitung erlebte in dieser Zeit einen Aufschwung. Beispielsweise stieg die Zahl der Schneider von sechs (1861) auf 22 (1913/15). Die Seiler andererseits konnten mit den Grossbetrieben nicht konkurrieren. Um 1890 starb das Seilergewerbe aus. Die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts betriebene Seidenraupenzucht erlangte wegen den fehlenden klimatischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen nie volkswirtschaftliche Bedeutung; in den frühen 1890er Jahren fand die Seidenweberei ein Ende.

Charakteristisch für die Heimstickerei und die Textilindustrie war der hohe Frauenanteil. Die Handstickerei wurde wohl ausschliesslich von Frauen ausgeführt. An den in den 1860er Jahren aufkommenden Stickmaschinen sassen zwar Männer. Ihnen stand jedoch als Hilfskraft eine Frau, die Fädlerin, zur Seite. 1909 waren 68% der in Textilfabriken Beschäftigten Frauen.

Der Aufstieg der Textilindustrie fand mit dem Ersten Weltkrieg ein jähes Ende. Die enge Verbindung mit Österreich machte Liechtenstein trotz seiner Neutralität zum Ziel der Wirtschaftsblockade der Ententemächte gegen die Mittelmächte. Dies führte dazu, dass die Produktion zuerst gedrosselt und später völlig eingestellt wurde. Beim Kriegsende 1918 waren keine Textilfabriken mehr in Betrieb.

Auch für die Heimstickerei bedeutete der Erste Weltkrieg eine Katastrophe: bis 1919 sank die Zahl der Beschäftigten auf 77, was noch ein Fünftel des Vorkriegshöchststands war.

Entwicklung nach 1919

Nach dem Krieg kam es zu einer zaghaften Wiederbelebung der Stickerei. 1929 gab es zwei Stickereifabriken mit zusammen 82 Beschäftigten. Die übrige Textilindustrie kam nach dem Krieg ebenfalls wieder in Gang: zwei der stillgelegten Fabriken nahmen 1921 den Betrieb wieder auf. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre kam es sogar zur Eröffnung neuer Textilfabriken. In diesen zaghaften Aufschwung brach 1929 die Weltwirtschaftskrise ein. Von 1930 an und bis in den Zweiten Weltkrieg hinein machte sie sich in den Textilfabriken durch den Rückgang der Beschäftigtenzahl, die Einführung von Kurzarbeit oder die Reduktion der Webstuhlzahl bemerkbar. Trotzdem kam es auch in den 1930er Jahren zu Gründungen neuer Textilfabriken, zumeist durch deutsche Emigranten jüdischer Abstammung. Manche Gründungen wurden allerdings vereitelt. Ein Grund hierfür war neben anderen, dass die Schweiz, mit der Liechtenstein seit 1924 in einem Zollvertrag verbunden war, aus Furcht vor Konkurrenz für ihre eigene, krisengeschüttelte Textilindustrie in diesem Sinn auf Liechtenstein einwirkte.

Die Weltwirtschaftskrise liess auch das Textilgewerbe nicht unberührt. Wie andere Gewerbezweige kam es in den Genuss staatlicher Hilfsmassnahmen. 1937 beschlossen Regierung und Landtag zugunsten des Schneidergewerbes, die Herstellung einer einheitlichen Schulkleidung in Auftrag zu geben und diese zu subventionieren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg büsste die Textilindustrie ihre Stellung als führender Industriezweig endgültig ein: die Zahl der in ihr Beschäftigten schrumpfte kontinuierlich. Zwar gab es auch weiterhin Neugründungen von industriellen Textilunternehmen, die jedoch den allgemeinen Bedeutungsverlust dieses Industriezweigs nicht aufhalten konnten. Insbesondere die Konkurrenz durch Billigprodukte aus Asien machte der Textilindustrie zu schaffen. Überleben konnte nur, wer sich auf eine ertragreiche Nische konzentrierte. Bezeichnend ist, dass keine der Textilfabriken der Gründerzeit heute noch in Betrieb ist: 1982 schloss die Weberei in Triesen ihre Tore, 1993 die Spinnerei in Vaduz. Im Jahr 2000 gab es in Liechtenstein im Textilsektor zwei Industriebetriebe mit 185 Beschäftigten.

Das Textilgewerbe machte eine ähnliche Entwicklung durch. Die industrielle Massenfertigung der Konfektionsindustrie entzog ihm zunehmend den Boden. Einen vorübergehenden Aufschwung erlebte in den 1950er und 60er Jahren die Damenschneiderei. Ursache hierfür waren das Fehlen eines ausgedehnten Textil- und Konfektionshandels sowie der zunehmende Wohlstand, welcher Frauen ihr Bedürfnis nach modischer Bekleidung bei einer Schneiderin befriedigen liess.

Quellen

Literatur

  • Christoph Maria Merki: Wirtschaftswunder Liechtenstein. Die rasche Modernisierung einer kleinen Volkswirtschaft im 20. Jahrhundert, Zürich/Triesen 2007, S. 69f., 86–92, 109.
  • Peter Geiger: Krisenzeit. Liechtenstein in den Dreissigerjahren 1928–1939, Bd. 1, Vaduz/Zürich 1997, 2 2000, S. 133, 185, 264f., 273f.
  • Rupert Tiefenthaler: Liechtensteiner Arbeiter in der Feldkircher Textilindustrie, in: Fabriklerleben. Industriearchäologie und Anthropologie, Publikation zur Ausstellung, hg. von Hansjörg Frommelt im Auftrag des Liechtensteinischen Landesmuseums, Redaktion: Robert Allgäuer, Hansjörg Frommelt, Hanspeter Gassner, Triesen/Zürich/Vaduz 1994, S. 247–254.
  • Peter Geiger: Spinnen, Weben, Sticken. Liechtensteinische Textilindustrie von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Fabriklerleben. Industriearchäologie und Anthropologie, Publikation zur Ausstellung, hg. von Hansjörg Frommelt im Auftrag des Liechtensteinischen Landesmuseums, Redaktion: Robert Allgäuer, Hansjörg Frommelt, Hanspeter Gassner, Triesen/Zürich/Vaduz 1994, S. 139–156.
  • Josef Büchel: Geschichte der Gemeinde Triesen, hg. von der Gemeinde Triesen, Bd. 1, Triesen 1989, S. 263–272.
  • Alois Ospelt: Wirtschaftsgeschichte des Fürstentums Liechtenstein im 19. Jahrhundert. Von den napoleonischen Kriegen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 72 (1972), S. 247–253, 265–277.
  • Hanswerner Schnetzler: Beiträge zur Abklärung der Wirtschaftsstruktur des Fürstentums Liechtenstein, Winterthur 1966, S. 196.

Medien

Näherinnen bei der Näherei Marxer, Balzers, 1976 (Liechtensteinisches Landesarchiv, SgAV 09 049/109/018/A, Fotograf: Walter Wachter, Schaan).
Anzahl Beschäftigte in der Textilindustrie (ohne Heimstickerei), 1861-2000
Anzahl Betriebe zur Herstellung von Kleidern und Wäsche (ohne Schuhmacherei, inkl. Näherei), 1861-1995

Zitierweise

<<Autor>>, «Textilproduktion und -verarbeitung», Stand: 31.12.2011, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), URL: <<URL>>, abgerufen am 16.2.2025.