
Tschechoslowakei, Tschechische Republik, Slowakische Republik
Autor: Roland Marxer | Stand: 31.12.2011
Nach der Auflösung der Österreichisch-ungarischen Monarchie entstand 1918 aus Böhmen, Mähren, (Österreichisch-)Schlesien und der Slowakei die Tschechoslowakei (Československá Republika ČSR, 1960–89 Československá Socialistická Republika ČSSR, 1990–92 Česká a Slovenská Federatíví Republika ČSFR). Sie teilte sich 1993 in die Tschechische Republik und die Slowakische Republik.
Die Tschechoslowakei anerkannte 1918 die liechtensteinische Souveränität nicht. Sie lehnte 1923 die Errichtung einer liechtensteinischen Gesandtschaft in Prag und 1925 die Vertretung Liechtensteins durch die Schweiz ab. Sie betrachtete den Fürsten von Liechtenstein als den Habsburgern untergeordnet, um den Grundbesitz des Hauses Liechtenstein in die 1918 proklamierte Bodenreform einbeziehen zu können. Durch diese wurden bis 1936 rund 57% des fürstlich-liechtensteinischen Grundbesitzes in der Tschechoslowakei enteignet.
Im Juli 1938 stimmte die Tschechoslowakei der Vertretung der liechtensteinischen Interessen durch die Schweiz zu und anerkannte Liechtenstein dadurch implizit als souveränen Staat. Da im Oktober 1938 der deutsche Truppeneinmarsch erfolgte und im März 1939 das «Protektorat Böhmen und Mähren» geschaffen wurde, kam es zu keinen intensiveren Kontakten mehr. 1945 brach die Tschechoslowakei die diplomatischen Beziehungen ab und konfiszierte entschädigungslos das Vermögen aller liechtensteinischen Staatsangehörigen, das auf ihrem Staatsgebiet lag (betroffen war vor allem das Fürstenhaus): liechtensteinische Staatsangehörige wurden als «Personen deutscher Nationalität» im Sinn des Beneš-Dekrets Nr. 12 angesehen, unter Missachtung der liechtensteinischen Souveränität und Neutralität.
Liechtenstein brachte gegenüber der Tschechoslowakei ständig und wiederholt zum Ausdruck, dass es die 1945 erfolgte Konfiskation liechtensteinischen Vermögens als Vermögen von Personen deutscher Volkszugehörigkeit als einen inakzeptablen Verstoss gegen das Völkerrecht ansieht. Bei der Aufnahme der Tschechischen Republik in den Europarat 1993 enthielt sich Liechtenstein der Stimme. Liechtenstein ratifizierte die Freihandelsabkommen der EFTA-Staaten mit der Tschechoslowakei bzw. ihren Nachfolgestaaten nicht. Bisher haben weder die Tschechische noch die Slowakische Republik die 1938 erfolgte Anerkennung bestätigt. Sie waren auch nicht bereit, den Streitfall vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) zu klären. Dies führte 2003 im Zusammenhang mit der (Süd-/Ost-)Erweiterung des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zu Problemen: die beiden Länder akzeptieren den Vorschlag, die Anerkennung der liechtensteinischen Souveränität seit 1806 zu bestätigen, nicht, was eine Verzögerung der Unterzeichnung des Abkommens um rund einen Monat zur Folge hatte. Dabei gab Liechtenstein Erklärungen ab, in welchen auf die offenen Fragen und die liechtensteinische Position hingewiesen wurde. Am 13.7.2009 gaben die Regierungen Liechtensteins und der Tschechischen Republik die Aufnahme diplomatischer Beziehungen bekannt; am 8.9.2009 unterzeichneten sie in Prag ein entsprechendes Abkommen. Ein diesbezüglicher Schritt betreffend die Slowakische Republik stand bis dahin noch aus.
Literatur
- Rupert Quaderer-Vogt: Bewegte Zeiten in Liechtenstein 1914 bis 1926, 3 Bände, Vaduz/Zürich 2014.
- Peter Geiger: Kriegszeit. Liechtenstein 1939 bis 1945, 2 Bände, Vaduz/Zürich 2010.
- Rupert Quaderer: Das Haus Liechtenstein und die Bodenreform in der Tschechoslowakei nach dem Ersten Weltkrieg, in: Prague Papers on the History of International Relations, 2008, S. 265–290.
- Roland Marxer: Liechtensteins Beziehungen zur Tschechoslowakei und zu deren Nachfolgestaaten seit 1945, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 105 (2006), S. 131–150.
- Rupert Quaderer: Ein «Annex Österreichs» oder ein souveräner Staat?, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 105 (2006), S. 103–127.
- David Beattie: Liechtenstein. A modern history, London 2004, S. 62–66, 93, S. 132–137, 360–364.
- Peter Geiger: Krisenzeit. Liechtenstein in den Dreissigerjahren 1928–1939, 22000, Bd. 1, S. 58f., Bd. 2, S. 242–248.
- Lucia Dallabona: Die Bodenreform in der Tschechoslowakei nach dem Ersten Weltkrieg unter besonderer Berücksichtigung des Fürstlich-Liechtensteinischen Besitzes, Dipl. Wien, Ms. 1978 [LBFL].
Zitierweise
<<Autor>>, «Tschechoslowakei, Tschechische Republik, Slowakische Republik», Stand: 31.12.2011, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), URL: <<URL>>, abgerufen am 16.2.2025.