
Wuhrsysteme
Autor: Bernd Marquardt | Stand: 31.12.2011
Der alpine Rhein hatte bis ins 19. Jahrhundert das Gepräge eines Gebirgswildflusses, der stark verästelt war und in einem beständigen Wandlungsprozess sein Kernbett verlagerte. Zyklische Überschwemmungen verwüsteten Felder, verdarben Futterheu, brachten Häuser zum Einsturz, ertränkten Menschen und Vieh, lagerten auf dem Nutzland Steingeschiebe ab oder verschoben Herrschafts- und Gemeindegrenzen. Die Flussanrainer reagierten, indem sie an einmal erkannten Gefährdungspunkten präventiv künstliche Wasserschutzbauten, sogenannte Wuhre, anlegten. Dies waren bis ins 19. Jahrhundert aus Holz errichtete Dämme, die mit Pfählen zusammengehalten und mit Steinen beschwert waren. Zu unterscheiden sind die parallel zur Flussrichtung errichteten «Streichwuhre» und die schräg in den Fluss gebauten «Wuhrköpfe», welche die Strömung vom Ufer ablenkten. Wuhrköpfe, die so stark gebaut waren, dass sie die Strömung ans andere Ufer lenkten («Schupfwuhre»), führten zu zahlreichen Konflikten zwischen den Rheinanliegergemeinden und waren meist verboten.
Tief greifende Veränderungen bahnten sich an der Wende zum 19. Jahrhundert an, als der aufgeklärte Zeitgeist einer intensivierten Naturbeherrschung nach technisch aufwendigen Flusskorrektionen verlangte. Nachdem bereits der zwischen Liechtenstein und der Herrschaft Werdenberg geschlossene Wuhrvertrag von 1790 eine fixe Normalbreite des Alpenrheins vorgesehen hatte, einigten sich Liechtenstein und der Kanton St. Gallen mit dem Vertragswerk der Jahre 1837 und 1847 darauf, den Rhein in einen steindammbewehrten schnurgeraden Kanal umzuwandeln. Vorgesehen wurde ein Doppelwuhrsystem mit einer 120 m breiten Niedrigwasserrinne, die rund 45 m landeinwärts von Binnendämmen flankiert wurde.
Das liechtensteinische Rheinwuhrgesetz von 1865 schuf eine Landeswuhrkommission, was eine bessere Koordination des Wuhrbaus ermöglichte. Da die Höhe der Bauten nicht geregelt war, ging die Schweiz ab 1872 vom Doppelwuhrsystem zu den heutigen, einteiligen Hochwuhren über. Damit wurde die Überschwemmungsgefahr auf der liechtensteinischen Rheinseite grösser, was Liechtenstein trotz geringerer finanzieller Kapazitäten zum Nachziehen zwang. Zunächst wurden nur die Binnendämme verstärkt. Mit finanzieller Hilfe des Fürsten Johann II. konnte in den 1880er Jahren auch in Liechtenstein ein Hochwuhrsystem errichtet werden. Die liechtensteinischen Dämme blieben jedoch 60 cm niedriger als diejenigen der Schweizer Seite und waren auch in Bezug auf die Bauwerksqualität nicht mit jenen zu vergleichen. Dies hatte zur Folge, dass es am 25.9.1927 zu einer schweren Überströmungs- und Dammbruchkatastrophe auf dem rechten Rheinufer bei Schaan kam. Es folgten abermalige Erhöhungen und Verstärkungen, die sich beim Hochwasser von 1954 bewährten.
Zu den Nebeneffekten der Einzwängung des Flussökosystems gehörten permanente Geschiebeanlagerungen und damit die Erhöhung des Wasserniveaus über das Umland, sodass die Rheinsohle 1953–72 durch Geschiebeentnahme künstlich abgesenkt werden musste. Diese Massnahme erhöhte die Hochwassersicherheit, führte aber zu einer übermässigen Absenkung des Grundwasserspiegels mit negativen Folgen für Auen, Riede und grundwassergespiesene Gewässer (Giessen). Das von der Internationalen Regierungskommission Alpenrhein (IRKA) und der Internationalen Rheinregulierung (IRR) 2002–05 ausgearbeitete «Entwicklungskonzept Alpenrhein» sieht daher u.a. vor, dass der Alpenrhein zum Zweck der Sohlenerhöhung und damit der Anhebung des Grundwasserspiegels an 20 Stellen verbreitert werden soll.
Der Wuhrbau war besonders im 19. Jahrhundert eine immense finanzielle Belastung für die Gemeinden und den Staat. Die Finanzierungspflicht lag ursprünglich ausschliesslich bei den Rheingemeinden. Ab 1844 beteiligte sich der liechtensteinische Staat immer stärker an den Kosten; ab 1891 übernahm er einen Anteil von 75 %, seit 1990 einen solchen von 100 %.
Literatur
- Klaus Michor: Das Entwicklungskonzept Alpenrhein und seine raumprägende Bedeutung, in: Alpenrheintal – eine Region im Umbau, Hg. Mario F. Broggi, Vaduz 2006, S. 218–228.
- Paul Vogt: Brücken zur Vergangenheit. Ein Text- und Arbeitsbuch zur liechtensteinischen Geschichte. 17. bis 19. Jahrhundert, hg. vom Schulamt des Fürstentums Liechtenstein, Vaduz 1990, S. 241–246
- Alois Ospelt: Die Rheinkorrektion entlang der st. gallisch-liechtensteinischen Grenze. Ein Überblick über die Entwicklung im 19. Jahrhundert aus liechtensteinischer Sicht, in: Werdenberger Jahrbuch 1990, Jg. 3 (1989), S. 104–107.
- Hermann Reiff, Christian Göldi: Die Rheinkorrektion im Bezirk Werdenberg. Wuhrtätigkeit in der frühen Neuzeit und Uferschutzbauten in der Zeit von 1770 bis 1848, in: Werdenberger Jahrbuch 1990, Jg. 3 (1989), S. 82–103.
- Karl Hartmann: Der Rhein. Kurzer Abriss über die baulichen Massnahmen unter besonderer Berücksichtigung der Baggerungen, in: Festgabe Alexander Frick zum 75. Geburtstag, Schaan 1985, S. 181–196.
- Alois Ospelt: Wirtschaftsgeschichte des Fürstentums Liechtenstein im 19. Jahrhundert. Von den napoleonischen Kriegen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Bd. 72 (1972), S. 18–31.
Medien

Zitierweise
<<Autor>>, «Wuhrsysteme», Stand: 31.12.2011, in: Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online (eHLFL), URL: <<URL>>, abgerufen am 14.7.2025.